var textForPages = ["Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) VLADIMÍR KUBEŠ reminiscentia iuridica #5 # Masarykova univerzita","","ACTA UNIVERSITATIS BRUNENSIS IURIDICA EDITIO REMINISCENTIA IURIDICA muni muni press law","","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige skizzen)","","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) VLADIMÍR KUBEŠ reminiscentia iuridica #5 # Jaromír Tauchen [Hrsg.] Masaryk univerSitY Brno 2024","KATALOGIZACE V KNIZE - NÁRODNÍ KNIHOVNA ČR Kubeš, Vladimír, 1908-1988 Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (einige Skizzen) / Vladimír Kubeš ; Jaromír Tauchen (Hrsg.). -- 1. Auflage. -- Brno : Masaryk University, 2024. -- 1 online zdroj. -- (Acta Universitatis Brunensis iuridica) (Reminiscentia iuridica ; #5) Obsahuje bibliografie a bibliografické odkazy ISBN 978-80-280-0532-0 (online ; pdf) * 34-051 * 340 * 340.12 * (436) * (437.3) * (048.8) * (0.034.2:08) – Kelsen, Hans, 1881-1973 – Weyr, František, 1879-1951 – právníci -- Rakousko -- 20. století – právníci -- Česko -- 20. století – právní věda -- 20. století – právní filozofie -- 20. století – monografie – elektronické knihy 34 - Právo [16] Die Masaryk-Universität dankt MUDr. Eva Ungerová für ihre großzügige Unterstützung und ihr Interesse an der Herausgabe und Publikation der Werke ihres Vaters Prof. Vladimír Kubeš. Ohne ihre freundliche finan- zielle Unterstützung wäre es nicht möglich gewesen, die Manuskripte in dieser repräsentativen Form für die Veröffentlichung vorzubereiten. Fassung des Originalmanuskripts, redaktionell überarbeitet und ergänzt von doc. JUDr. Bc. Jaromír Tauchen, Ph.D., LL.M. Gratis Open Access – https://www.press.muni.cz/open-access * Poznámka pro nakladatele/vydavatele: do hotového záznamu CIP by nemělo být bez souhlasu NK zasahováno a cokoli v něm měněno, upravováno či dokonce vypouštěno, a to včetně interpunkce, která se uvádí v souladu s RDA a nikoli podle pravidel českého pravopisu. © 2024 Masaryk-Universität ISBN 978-80-280-0532-0 (online ; pdf)","Inhalt Vorwort des Herausgebers .................................................................................................9 Überblick über die wichtigsten Werke von Vladimír Kubeš ..................................... 19 Vorwort .................................................................................................................................21 A Einleitung und methodologischer Zugang ............................................23 I Die Krise der Rechtswissenschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts ..................................................................................23 II Methodologischer Zugang zur Wertung der wissenschaftlichen Persönlichkeiten und der Werke ............24 B Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten ................................................................................................28 I Jugend ..............................................................................................................28 II Der weitere Lebenslauf .............................................................................35 III Kelsen und Weyr in gegenseitiger Sicht und Würdigung ............ 47 C Das Werk ................................................................................................................60 I Die transzendentale (kritische) Philosophie Kants als behauptete philosophische Grundlage der Schule der Reinen Rechtslehre .............................................................................60 II Die spezielle philosophische Fundierung bei Kelsen ..................... 75 III Die spezielle philosophische Fundierung bei Weyr ........................94 IV Der noetische Dualismus bei Kelsen ...................................................101 V Der noetische Trialismus bei Weyr ..................................................... 104 VI Die Trennung der rechtlich-volitiven und der rechtlich-kognitiven Sphäre; der Positivismus ....................... 112 VII Die Rolle der Logik im rechtlichen Gebiet .........................................124 7","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) VIII Pflicht und Norm ....................................................................................... 130 IX Die Grundnorm bei Kelsen und der normative Angelpunkt bei Weyr ................................................................................135 X Der Begriff des Rechts; die Stufenförmigkeit der Rechtsordnung; lex posterior derogat priori; das Völkerrecht ...........................................................................................141 XI Privates und öffentliches Recht ............................................................154 XII Die Arbeit beider Denker an der Vorbereitung der Verfassungsentwürfe ....................................................................... 158 D Ausblick .................................................................................................................162 I Die Notwendigkeit neuer philosophischer Fundierung ..............162 II Die Art und Weise der künftigen Zusammenarbeit .......................174 Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 177 8","Vorwort des Herausgebers Prof. JUDr. Vladimír Kubeš wurde am 19. Juli 1908 in die Familie eines bekannten Brünner Arztes geboren. Nach dem Besuch des Realgymna- siums in Brünn und der juristischen Fakultäten in Brünn, Heidelberg und Paris promovierte er 1930 zum Doktor der Rechtswissenschaften. Anschließend studierte er auch an der Philosophischen Fakultät in Brünn und absolvierte Studienaufenthalte in Berlin und Wien. Anfang 1931 veröffentlichte er sein erstes Buch Beitrag zur Lehre von den Klagen wegen ungerechtfertigter Bereicherung, das mit dem Preis der Juristischen Fakultät ausgezeichnet wurde. Im März 1934 wurde er auf Grund seiner Habilitationsschrift Verträge gegen die guten Sitten zum Privat- dozenten ernannt, für die er 1935 den Preis erster Klasse der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Prag für das beste in den Jah- ren 1932–1934 im Druck erschienene Buch auf dem Gebiet des Privatrechts erhielt. Aufgrund seines nächsten Buches, Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm, wurde Kubeš 1938 zum außerordentlichen Professor an die Juristische Fakultät der Masaryk-Universität ernannt, jedoch auf- grund der nachfolgenden Ereignisse und der Schließung der tschechischen Universitäten im November 1939 kam die Ernennung nicht zustande. In den dreißiger und in der ersten Hälfte der vierziger Jahre war Kubeš auch in der Rechtspraxis, in der Justiz und in der Mährisch-Schlesischen Finanzprokuratur in Brünn tätig. Seit 1931 publizierte er regelmäßig in in- und ausländischen juristischen Fachzeitschriften. Im Juni 1945 wurde er zum ordentlichen Professor für bürgerliches Recht und Rechtsphilosophie ernannt, im Studienjahr 1947/1948 war er Dekan der Juristischen Fakultät in Brünn. Nach dem Krieg beteiligte er sich an der Arbeit der Kommission zur Vorbereitung der neuen tschechoslowaki- schen Verfassung, deren Entwurf er Ende 1947 der Öffentlichkeit vorstellte. 1 1 KUBEŠ, V. O novou ústavu [Auf dem Wege zu einer neuen Verfassung]. Prag: Melantrich, 1948. 9","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Nachdem die Kommunisten im Februar 1948 die Macht in der Tsche- choslowakei übernommen hatten, musste Kubeš die juristische Fakultät unfreiwillig verlassen. Bis zu seiner Verhaftung arbeitete er als Direk- tor der Gesellschaft für den internationalen Rechtsschutz der Jugend in der Tschechoslowakei. Nach einem politischen Prozess war er zwischen 1949 und 1954 in mehreren Gefängnissen und Uranbergwerken inhaftiert. Nach seiner Entlassung arbeitete er zunächst als Arbeiter und später als Betriebsjurist. Von 1968 bis 1971 war er Professor für Rechtsphilosophie an der Philo- sophischen Fakultät in Brünn. Anfang 1969 wurde er zum Vorsitzenden der Kommission für die Wiedererrichtung der 1950 aufgehobenen Brünner juristischen Fakultät Brünn ernannt. In der Folgezeit leitete er den Lehr- stuhl für Staats- und Rechtstheorie sowie Rechtsphilosophie und war Prodekan für wissenschaftliche Arbeit. Nach der Besetzung der Tschecho- slowakei durch die Truppen des Warschauer Paktes im Jahr 1968 änderte sich die Situation jedoch. Aus politischen Gründen musste Kubeš Anfang 1971 die juristische Fakultät wieder verlassen und ging in den Ruhestand. Da Kubeš in den 1970er und 1980er Jahren aufgrund politischer Umstände weder an einer Universität noch an einer Forschungsein- richtung in der Tschechoslowakei arbeiten oder publizieren durfte, richtete er seine wissenschaftliche und pädagogische Tätigkeit auf das Ausland aus. 1973 wurde er zum internationalen Korrespondenten des Hans-Kelsen-Instituts in Wien ernannt. Ab 1974 wurde Vladimír Kubeš zu Vorlesungen an den Universitäten von Graz, St. Louis, Wien, Innsbruck und Basel eingeladen und nahm an Weltkongressen für Rechts- und Sozi- alphilosophie teil. Die Texte seiner Vorträge und Abhandlungen wurden in der Folge auch veröffentlicht. Seit 1976 war Kubeš für zehn Semester als Professor für Rechtsphilosophie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien tätig. In den 1980er Jahren veröffentlichte er meh- rere Bücher in österreichischen und deutschen Verlagen. 10","Vorwort des Herausgebers Vladimír Kubeš verstarb am 14. November 1988 in Brünn im Alter von 80 Jahren. 2 * * * Professor Vladimír Kubeš war einer der produktivsten Publizisten in der Geschichte der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität. Da er politisch verfolgt wurde, durfte er die Ergebnisse seiner wissen- schaftlichen Arbeit während der sozialistischen Ära nicht veröffentlichen. Obwohl diese Tatsache entmutigend ist, hörte Vladimír Kubeš nie auf, wissenschaftlich zu arbeiten. Während der gesamten Zeit des Sozialismus schrieb er kontinuierlich, ohne die Hoffnung, dass seine Arbeit jemals ver- öffentlicht werden würde. Kubeš‘ wissenschaftlicher Werdegang lässt sich in drei imaginäre Teile gliedern: Zivilrecht, Staatsrecht oder Staatswissenschaften und Rechts- philosophie. Die zivilrechtliche Periode ist mit den Anfängen seiner wissenschaftlichen Laufbahn in den 1930er Jahren verbunden. In die- ser Zeit beschäftigte er sich mit Themen wie der Frage der Klagen auf ungerechtfertigte Bereicherung, der unter Verstoß gegen die guten Sit- ten geschlossenen Verträge oder der Unmöglichkeit der Leistung. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Kubeš‘ Arbeit in einer verfas- sungsrechtlichen Periode, als er an den Diskussionen zur Ausarbeitung der neuen tschechoslowakischen Verfassung teilnahm und diese auch selbst verfasste. Kubeš befasste sich 1968 erneut mit dem Thema Staats- recht. Er beteiligte sich aktiv an den laufenden Diskussionen über die staatsrechtliche Organisation der Tschechoslowakei und an den Bemü- hungen um die Rehabilitierung der Stellung Mährens in der künftigen Föderation. Kubeš‘ dritte rechtsphilosophische Periode fand vor allem 2 Zum ausführlichen Lebenslauf von Vladimír Kubeš siehe z. B. VOJÁČEK, L., SCHELLE, K., TAUCHEN, J. Dějiny Právnické fakulty Masarykovy univerzity: 1919–2019. Svazek 2, 1989–2019 [Geschichte der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität: 1919–2019. Band 2, 1989–2019]. Brünn: Masarykova univerzita, 2019, S. 357-360; BOHÁČKOVÁ, R. Život a dílo prof. JUDr. Vladimíra Kubeše [Leben und Werk von Prof. JUDr. Vladimír Kubeš]. Brünn: Masarykova univerzita, 1993; VLČEK, E. Vladimír Kubeš. In: SKŘEJPKOVÁ, P. [Hg.] Antologie československé právní vědy v letech 1918–1939 [Anthologie der tschechoslowakischen Rechtswissenschaft in den Jahren 1918–1939]. Prag: Linde, 2009, S. 266-272. 11","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) in den letzten zwanzig Jahren seines Lebens statt, also während der Zeit, als er in der Tschechoslowakei nicht publizieren durfte. In dieser Zeit beschäftigte er sich fast ausschließlich mit der Rechtsphilosophie. Seine Bücher und wissenschaftlichen Artikel auf diesem Gebiet wurden ab Mitte der 1970er Jahre im deutschsprachigen Raum veröffentlicht. Kubeš beschäftigte sich jedoch sein ganzes Leben lang mit Rechtsphilosophie, und einige seiner Werke oder Teile davon haben auch rechtsphilosophi- schen Charakter. Vladimír Kubeš war ein Vertreter der zweiten Generation der Professoren der Fakultät und in der Nachkriegszeit der aktivste tsche- chische Vermittler des Erbes der Brünner Rechtsschule und innerhalb dieser insbesondere der normativen Theorie. Im umfangreichen schriftlichen Nachlass von Kubeš, der mir freund- licherweise von seiner Tochter, Frau Dr. Eva Ungerová, anvertraut wurde und den ich verwalte, befinden sich sechs vollständige unveröffentlichte Manuskripte. Dank der großzügigen finanziellen Unterstützung von Frau Dr. Ungerová wird die Masaryk-Universität diese ab 2023 veröffentlichen und der Öffentlichkeit zugänglich machen. Neben den drei Manuskripten in tschechischer Sprache gibt es auch drei Werke in deutscher Sprache. Die veröffentlichten Manuskripte behandeln nicht nur die Rechtsphi- losophie, das Hauptgebiet, auf dem Vladimír Kubeš in der zweiten Hälfte seines Lebens tätig war, sondern auch das Zivilrecht und die Theorie von Staat und Recht. * * * In seinen Memoiren widmete sich Vladimír Kubeš seiner Zeit in Österreich in den 1970er und 1980er Jahren und erinnerte sich auch an die Persönlichkeiten, die er während seiner Aufenthalte in Wien, Graz und Innsbruck kennengelernt hatte. Im Jahr 1973 wurde er zum 3 internationalen Korrespondenten des Hans Kelsen-Instituts ernannt, des- sen Aufgabe des Instituts darin bestand, das Lebenswerk und die Reine 3 KUBEŠ, V., TAUCHEN, J. [Hg.] ... a chtěl bych to všechno znovu. Filozofické vypořádání s pesimistickým světovým názorem [… und ich hätte gern alles von neuem. Philosophische Auseinandersetzung mit einer pessimistischen Welteinstellung]. Zweite ergänzte Auflage. Brünn: Masarykova univerzita, 2022, S. 213-279. 12","Vorwort des Herausgebers Rechtslehre Kelsens zu pflegen sowie deren wissenschaftliche Resonanz im In- und Ausland zu dokumentieren. Zur ersten Sitzung dieses Instituts, die am 11. Oktober 1973 in Wien stattfand, wurde Kubeš schriftlich einge- laden. Er konnte jedoch nicht persönlich an diesem Treffen teilnehmen, da er die entsprechende Ausreisegenehmigung des kommunistischen Innenministeriums nicht erhalten hatte. Diese Einladung bildete jedoch ein imaginäres Sprungbrett für seine anschließende langjährige Tätigkeit im Ausland. In den 1970er Jahren schenkte Kubeš dem Hans Kelsen-Institut zwei Gegenstände, die er aus dem Nachlass seines Lehrers František (Franz) Weyr erhalten hatte: ein sehr gelungenes Gemälde, das Kelsen seinerzeit Weyr geschenkt hatte, und ein Einzelexemplar des zweiten Bandes einer Festschrift, die im April 1939 anlässlich des 60. Geburtstages von František Weyr erscheinen sollte. Weyrs Freunde und Schüler bereiteten die Fest- schrift vor, die aus zwei Bänden bestand. Der erste Band, der über dreihundert Seiten umfasste und mit einer Einleitung von Karel Engliš versehen war, erschien in tschechischer Sprache und enthielt dreißig Bei- träge, die überwiegend rechtstheoretischen Inhalts waren. Der zweite Band sollte zehn Abhandlungen in deutscher und französischer Spra- che enthalten, darunter Beiträge von Kelsen, Radbruch, Guggenheim und anderen Mitarbeitern der Internationalen Zeitschrift für Theorie des Rechts. Das Vorwort zu diesem zweiten Band wurde von Hans Kelsen verfasst. Leider konnte der zweite Band der Festschrift nicht veröffentlicht werden, da im März 1939, einen Monat vor Weyrs Geburtstag, die Tschechoslowa- kei von der deutschen Wehrmacht besetzt wurde und die Veröffentlichung von Beiträgen jüdischer Autoren nicht erwünscht war. So wurde nur ein privates und unverkäufliches Exemplar gedruckt und Weyr als „vorläufi- ges Specimen“ übergeben. In den folgenden Jahren pflegte Kubeš eine intensive Kommunikation und Zusammenarbeit mit dem Hans Kelsen-Institut sowie mit österreichi- schen Rechtswissenschaftlern wie Alfred Verdross, Günther Winkler, Robert Walter und Erwin Melichar. 13","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Durch das Knüpfen persönlicher Kontakte in Wien konnte Kubeš eine engere Zusammenarbeit mit dem Hans Kelsen-Institut erreichen. Eine seiner ersten größeren Veröffentlichungen war die Abhandlung Reine 4 Rechtslehre in der Tschechoslowakei. In dieser ging er insbesondere auf den Mitbegründer der Reinen Rechtslehre, František Weyr, und seine rechts- philosophische Konzeption ein. Anschließend beschäftigte er sich mit dem Einfluss der rechtsphilosophischen Konzeption des Strafrechtlers Jaros- lav Kallab und der Theorie der Gedankenordnung des Volkswirtschaftlers Karel Engliš auf die weitere Entwicklung der Rechtsphilosophie. Darüber hinaus setzte er sich mit der späteren Entwicklung der Brünner Rechts- schule auseinander. In der ersten Hälfte des Jahres 1975 wurde Kubeš offiziell eingeladen, einen Vortrag an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universi- tät Wien zu halten. Das Thema der Vorlesung war Die heutige Sendung der Rechtsphilosophie, und der Text wurde anschließend in der Österreichi- schen Juristen-Zeitung veröffentlicht. Kubeš war ab dem Wintersemester 1976 zehn Semester lang als Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Wiener juristischen Fakultät tätig. 5 Kubeš veröffentlichte mehrere Bücher in der von Günther Winkler gegründeten Reihe Forschungen aus Staat und Recht: Grundfragen der Philo- sophie des Rechts (1977), Die Rechtspflicht (1981) und Theorie der Gesetzgebung: Materielle und formale Bestimmungsgründe der Gesetzgebung in Geschichte und Gegenwart (1987). Im Jahr 1980 veröffentlichte er gemeinsam mit Ota Weinberger das Werk Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie). Darin beschreibt er den Stand der Rechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts und skizziert die Entstehung der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre. Den Grundstein für das neue rechtstheoretische Konzept legten František Weyr und Hans Kelsen. Weyr veröffentlichte 1908 die Werke Příspěvky 4 KUBEŠ, V. Reine Rechtslehre in der Tschechoslowakei. In: Einfluss der Reinen Rechtslehre auf die Rechtstheorie in verschiedenen Ländern, Teil II. Wien: Manz Verlag, 1978, S. 137-149. 5 KUBEŠ, V., TAUCHEN, J. [Hg.] ... a chtěl bych to všechno znovu. Filozofické vypořádání s pesimistickým světovým názorem [… und ich hätte gern alles von neuem. Philosophische Auseinandersetzung mit einer pessimistischen Welteinstellung] Zweite ergänzte Auflage. Brünn: Masarykova univerzita, 2022, S. 229. 14","Vorwort des Herausgebers k teorii nucených svazků [Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände] und Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, während Kelsen 1911 sein Werk Hauptprobleme der Staatsrechtsehre publizierte. Kubeš diskutierte die Gemein- samkeiten und Unterschiede zwischen den Lehren von Kelsen und Weyer und erwähnte die wichtigsten Vertreter der Brünner Schule, insbesondere Karel Engliš, Jaroslav Kallab, Jan Loevenstein und Jaromír Sedláček. * * * Ende Juni 1981 endete Kubeš‘ Gastprofessur an der Rechtswis- senschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Auf Initiative des damaligen Bundeskanzlers Bruno Kreisky wurde Kubeš beauftragt, ein Buch über das Verhältnis von Hans Kelsen und František Weyr für das Hans Kelsen-Institut zu schreiben, dessen Präsident Kreisky war. Kubeš nahm dies mit Freude an, da es ein Thema war, das ihm sehr am Herzen lag. Er schätzte, ja liebte Weyr als seinen Lehrer sehr und es ermöglichte ihm, weiterhin Wien zu besuchen. Nach einer einjährigen Arbeit legte er das Werk mit dem Titel Hans Kel- sens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) vor, in dem er versuchte, die Lehren Weyrs mit denen Kelsens zu vergleichen, die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen herauszuarbeiten und vor allem die persönlichen Aspekte der beiden Denker hervorzuheben. Der Vergleich fiel eindeutig zugunsten von František Weyr aus, dem Begrün- der des tschechoslowakischen Zweigs der Reinen Rechtslehre (normative Theorie). Kubeš hatte das Manuskript von Weyrs dreibändigen Memoiren zur Verfügung, aus dem er auch an vielen Stellen zitiert, was die Persön- lichkeit Weyrs sehr treffend illustriert. Leider fehlen jedoch die Hinweise auf einzelne Seiten. Kubeš kannte die Werke Immanuel Kants sehr gut, 6 6 Das Manuskript der Memoiren von František Weyr, das Weyr in den letzten Jahren vor seinem Tod schrieb, stand seinen Schülern zur Verfügung. Da die Veröffentlichung von Weyrs Memoiren in der sozialistischen Zeit jedoch nicht in Frage kam, konnten sie erst nach 1989 veröffentlicht werden: WEYR, F., UHDEOVÁ, J. [Hg.] Paměti 1, Za Rakouska (1879–1918) [Memoiren 1, In Österreich (1879–1918)] Brünn: Atlantis, 1999; WEYR, F., UHDEOVÁ, J. [Hg.] Paměti 2, Za Republiky (1918–1938) [Memoiren 2, In der Republik (1918–1938)]. Brünn: Atlantis, 2001; WEYR, F., UHDEOVÁ, J. [Hg.] Memoiren 3, Za okupace a po ní (1939–1951) [Memoiren 3, Während und nach der Besatzung (1939–1951)]. Brünn: Atlantis, 2004. 15","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) auf denen beide Schulen aufbauen. Daher finden wir in vielen Passagen von Kubeš Auszüge aus Kant. 7 Kubeš reichte das Manuskript ein, welches in Wien insbesondere von Prof. Robert Walter gründlich studiert wurde. Aufgrund fehlender finanzieller Mittel wurde es jedoch nicht veröffentlicht und blieb nur als Manuskript erhalten. Jetzt, mehr als 40 Jahre nach seiner Entstehung, hat die breite Öffentlichkeit die Möglichkeit, sich mit diesem Werk von Kubeš vertraut zu machen. Das Manuskript, welches als Grundlage für die Herausgabe dieser Monographie dient, umfasst 194 Seiten Maschinenschrift, inklusive hand- schriftlicher Eintragungen und Korrekturen durch die Professoren Robert Walter und Kurt Ringhofer. Wie bereits erwähnt, stammt das Manuskript aus dem Jahr 1982 und ist dementsprechend sprachlich gestaltet. Seit der Abfassung des Manuskripts hat sich die deutsche Sprache jedoch erheb- lich weiterentwickelt. Das Manuskript wurde in seiner ursprünglichen Form belassen, einschließlich der damals üblichen Form von Anmerkun- gen und Zitaten aus der Sekundärliteratur. Es wurden beispielsweise der Erscheinungsort oder der Verlag bei Monographien oder der Seiten- umfang bei Aufsätzen in Zeitschriften und Tagungsbänden weggelassen. Da im Originalmanuskript jedoch oft die Erscheinungsjahre der Zitate fehlten, wurden diese ergänzt. Kubeš gab in den Zitaten des Anmerkungs- apparats bei bekannten Kommentaren und Monographien nicht den vollständigen Titel an, sondern nur die damals gebräuchliche Kurzfassung (z. B. Klangs oder Roučeks und Sedláčeks Kommentar zum ABGB). Ich habe die Abkürzungen beibehalten, jedoch ein Verzeichnis der verwendeten Literatur erstellt und am Ende des Buches hinzugefügt. Dadurch wird dem zeitgenössischen Leser die Möglichkeit gegeben, die zitierten Werke auf Wunsch ausfindig zu machen; dieses Verzeichnis, das im Originalmanu- skript nicht vorhanden war, enthält die einzelnen Titel vollständig, jedoch 7 Während der Zeit der deutschen Besatzung der böhmischen Länder (1939–1945) stu- dierte Kubeš Kants Werk. Das Ergebnis dieser Studie war das Manuskript Kantova trans- cendentální filozofie [Kants transzendentale Philosophie], das jedoch nach dem Krieg nicht veröffentlicht wurde und in Kubeš‘ Nachlass nicht erhalten geblieben ist. 16","Vorwort des Herausgebers ohne Angabe des Erscheinungsortes oder des Verlages. Es ist allerdings sehr einfach, die Titel bei Bedarf mithilfe von Internet-Suchmaschinen oder Bibliothekskatalogen zu finden. Leider ist die erste Seite des Manuskripts nicht erhalten geblieben. Trotz aller Bemühungen ist es mir nicht gelungen, ein weiteres Exemplar des betreffenden Manuskripts zu finden, das die erste Seite enthält. Ich hoffe, dass das Manuskript von Vladimír Kubeš Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) nicht nur Rechtshistoriker, Rechtstheoretiker, Rechtsphilosophen und an der historischen Entwick- lung der Rechtswissenschaft in der Tschechischen Republik Interessierte anspricht, sondern auch die Aufmerksamkeit von Kolleginnen und Kolle- gen aus dem deutschsprachigen Raum auf sich ziehen wird. Jaromír Tauchen Herausgeber 17","","Überblick über die wichtigsten Werke von Vladimír Kubeš Příspěvek k nauce o žalobách z obohacení [Beitrag zur Lehre von den Klagen wegen unbegründeter Bereicherung]. Brünn: Právnická fakulta MU, 1931, 110 S. Smlouvy proti dobrým mravům [Verträge gegen die guten Sitten]. Prag: Orbis, 1933, 316 s. Nemožnost plnění a právní norma [Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm]. Prag: Orbis, 1938, 280 S. Soudcovská pomoc při smlouvách [Richterliche Hilfe bei Verträgen]. Prag: Melantrich, 1943, 128 S. Právní filosofie 20. století. (Kantismus, hegelianismus, fenomenologie a teorie myšlenkového řádu) [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts (Kantismus, Hegelianismus, Phänomenologie und die Theorie der Gedankenordnung)]. Brünn: Čsl. akad. spol. „Právník“, 1947, 162 S. O novou ústavu [Auf dem Wege zu einer neuen Verfassung]. Prag: Melantrich, 1948, 140 S. Grundfragen der Philosophie des Rechts. Wien: Springer, 1977, 87 S. (zusammen mit O. Weinberger) Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie). Wien: Manz, 1980, 372 S. Die Rechtspflicht. Wien: Springer, 1981, 140 S. 19","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Ontologie des Rechts. Berlin: Duncker \& Humblot, 1986, 470 S. Theorie der Gesetzgebung. Materiale und formale Bestimmungsgründe der Gesetzgebung in Geschichte und Gegenwart. Wien: Springer, 1987, 299 S. Kapitoly z právní sociologie [Kapitel aus der Rechtssoziologie]. Brünn: Masarykova univerzita, 1991, 120 S. Dějiny myšlení o státu a právu ve 20. století se zřetelem k Moravě a zvláště Brnu. Díl I. a II. [Geschichte des Denkens über den Staat und das Recht im 20. Jahrhundert in Bezug auf Mähren und insbesondere Brünn. Teil I. und II.]. Brünn: Masarykova univerzita, 1995, 366 S. und 376 S. (zusammen mit O. Weinberger) Brněnská škola právní teorie (normativní teorie) [Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie)]. Prag: Karolinum, 2003, 440 S. (TAUCHEN, J. [Hg.]) ... a chtěl bych to všechno znovu. Filozofické vypořádání s pesimistickým světovým názorem [… und ich hätte gern alles von neuem. Philosophische Auseinandersetzung mit einer pessimistischen Welteinstellung]. 2. Auflage. Brünn: Masarykova univerzita, 2022, 293 S. (TAUCHEN, J. [Hg.]) Mimořádné poměry a smlouvy úplatné [Außerordentliche Verhältnisse und entgeltliche Verträge]. Brünn: Masarykova univerzita, 2023, 283 S. 20","Vorwort Wer die Gesamtsituation der Rechtstheorie im 20. Jahrhundert objektiv sehen und einschätzen will, muss feststellen, dass kein anderer Rechts- theoretiker mehr Anregungen in diesem wissenschaftlichen Bereich gegeben hat und dass kein anderer mit so viel Bewunderung und kriti- scher Wertschätzung, aber auch so oft mit Ablehnung bedacht wurde wie Hans Kelsen. Das Gedankengebäude seiner Reinen Rechtslehre, seine unermüdliche wissenschaftliche Tätigkeit, fast bis zum Ende seines lan- gen Lebens, sowie seine Offenheit für alles Neue sind bekannt. Im Jahr 1934 schrieb der große amerikanische Rechtstheoretiker Roscoe Pound, 8 der andere Wege als Kelsen ging, Kelsen sei „unquestionably the leading jurist of the time“. Etwas im Schatten dieses großen Wissenschaftlers steht sein enger und aufrichtiger Freund, František (Franz) Weyr, der schon im Jahr 1908 einige Hauptgedanken zur Reinen Rechtslehre entwickelt hatte und Begrün- der der Brünner Schule der Reinen Rechtslehre war. Die gegenseitige Bewunderung und Freundschaft beider Männer hat Hans Kelsen selbst meisterhaft und mit tiefem Gefühl in seiner Vorrede zu Weyrs Festschrift Sammlung von Arbeiten zu Ehren des 60. Geburtstages von Franz Weyr (1939) dargelegt, von der uns Rudolf Aladár Métall im I. Band der Schriftenreihe des Hans Kelsen-Instituts (1974, S. 20 ff.) berichtet. Es wäre kaum angebracht, in diesem kleinen Buch eine gründliche Untersuchung des spannenden Lebens und des großen Werkes beider Denker vorlegen zu wollen. Das ist auch nicht beabsichtigt. Vielmehr sei in die wichtigsten Berührungspunkte (im persönlichen Leben und im wissenschaftlichen Werk), aber auch einzelne nicht unbedeutende Verschiedenheiten hervorgehoben. In dieser Hinsicht mag es die rechts- theoretische Öffentlichkeit interessieren, was Weyr selbst zu einer solchen 8 The Yale Law Journal, Jg. XLIII (1934), S. 532. 21","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Thematik sagte. In seinem Nachlass befanden sich umfangreiche und in vieler Hinsicht fesselnd geschriebene, bisher nicht publizierte Memoi- ren. Einige zum Thema gehörende Auszüge sind in dieser Arbeit angeführt. Die Gegenüberstellung von zwei so verwandten und demnach selb- ständig denkenden, mitunter zu verschiedenen Ergebnissen kommenden Wissenschaftlern könnte der weiteren Entwicklung der Schule des Rei- nen Rechtslehre zum Vorteil gebracht werden. Alles Reale – und die Schule der Reinen Rechtslehre weist eine erstaunliche Realität auf – unterliegt der Zeit. Das wissenschaftliche Denken verträgt keine Starrheit und keine ewige Dauer einmal objektivierter Gedanken. Keine Lehrmeinung darf als Dogma gelten. Wahre Wissenschaft bedeutet immer ein Fortschreiten auf breiter Front – mit dem Ziel, der absoluten Normidee der Wahrheit und Richtigkeit auf dem unendlichen Weg ein Stück näher zu kommen. In die- sem Sinn sollte noch diese Arbeit verstanden und angenommen werden. Es ist für mich eine angenehme Pflicht und zugleich eine Freude, den Förderern dieser Arbeit meinen Dank auszudrücken: dem Herrn Präsiden- ten des Hans Kelsen-Instituts, Bundeskanzler Dr. Bruno Kreisky, und den beiden Geschäftsführern dieses Institutes Univ. Prof. Dr. Kurt Ringhofer und Univ. Prof. Robert Walter. Wien-Brünn, im November 1982 Vladimír Kubeš 22","A EINLEITUNG UND METHODOLOGISCHER ZUGANG I Die Krise der Rechtswissenschaften am Beginn des 20. Jahrhunderts [Anmerkung des Herausgebers: Die erste Seite des Manuskripts ist leider nicht erhalten geblieben]. ... Aber auch diese revolutionären Strömungen waren nicht imstande, anstelle des bisherigen ein festes wissenschaftliches System zu erarbei- ten. Die Tätigkeit der freirechtlichen und der soziologischen Rechtsschule erschöpfte sich in der Destruktion; eine wirklich konstruktive Arbeit wurde von beiden, im Grunde eng zusammenhängenden Strömun- gen nicht geleistet. Die grundlegende Auffassung der Schule der freien Rechtsfindung, die in ihrer Lehre vom „freien“, hinter dem Gesetz exi- stierenden und sich nicht nur im Falle einer „echten“, sondern auch einer 9 „unechten Gesetzeslücke“ (im Sinne Piskos ) manifestierenden Recht besteht, ist grundsätzlich falsch. Eine wissenschaftliche Begründung des „freien“ Rechtes wurde von dieser Schule auch nicht gegeben. Aber auch der rechtsphilosophische Standpunkt der soziologischen Schule mit seiner grundsätzlichen Nichtanerkennung des Sollenscharakters (also des normativen Charakters des Rechtes), ist unrichtig. 10 Auch Hecks Schule der Interessenjurisprudenz entbehrte einer wirklich philosophischen Grundlage. Mit ihrer Forderung nach einer vernünftigen Abwägung der Interessen der Streitparteien und der Notwendigkeit eines Vergleichs dieses Interessenkonflikts mit jenem, der im Gesetz abstrakt entschieden ist, hatte sie zwar eine willkommene Anleitung für die Rechts- anwendung gegeben, aber nicht mehr. 11 9 Pisko in Klang (Hg.): Kommentar zum Allgemeinen bürgerlichen Gesetzbuch I (1931), S. 146. 10 Ehrlich: Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), S. 6 und dazu die hervorragende Kritik von Kallab: Úvod ve studium metod právnických I [Einführung in das Studium der juristischen Methode I] (1920), S. 40 ff. und von Larenz: Das Problem der Rechtsgeltung (1929), S. 13 ff. 11 Kubeš: Pozitivní právo sekundární [Habilitationsvortrag], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. XVII (1934), S. 10 ff. 23","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Die Situation, die in der Rechtswissenschaft durch die heftigen Angriffe besonders der freirechtlichen und der rechtssoziologischen Schule gegen die herrschende Rechtsdoktrin geschaffen wurde, war wirk- lich kritisch. Die Position der traditionellen Rechtswissenschaft wurde zwar in ihren Grundlagen erschüttert, aber die neuen Strömungen konn- ten auf ihren Trümmern keinen neuen soliden Bau errichten. Es ist nicht verwunderlich, dass das Ansehen der Rechtswissenschaft bei diesem Zustand stark sank, und dass sowohl in Kreisen der Rechtspraktiker, als auch in jenen der allgemeinen Philosophen die Rechtstheoretiker despek- tierlich betrachtet wurde. Es war wirklich an der Zeit, dass jemand mit einer neuen Lehre auftrat, die sich sowohl gegen die traditionelle Juris- prudenz des 19. Jahrhunderts, als auch gegen die freirechtliche und gegen die rechtssoziologische Schule richtete und gleichzeitig neue Grundlagen aufbaute. Nach der Erfahrung, die wir im Laufe des 20. Jahrhunderts gesammelt haben, sieht man klar, dass der Grundstein zu dieser gigantischen Arbeit von Franz Weyr (Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv des öffentlichen Rechts, 1908, S. 529 ff.) und von Hans Kelsen (Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911) gelegt wurde. II Methodologischer Zugang zur Wertung der wissenschaftlichen Persönlichkeiten und der Werke 1. Grundsätzlich kann man an die Wertung eines wissenschaftlichen Wer- kes in zweifacher Weise herantreten. Einerseits kann man vom Standpunkt des objektiven Beurteilers des wissenschaftlichen Werkes selbst und allein aus diesem Werk seinen Schöpfer sehen, anderseits kann man gleichzeitig mit dem Werk die Per- sönlichkeit seines Schöpfers in einem dialektischen Zusammenhang betrachten und das Werk gewissermaßen aus den Eigenschaften seines Autors, die zum Teil durch das Milieu bedingt sind, interpretieren. 24","A: Einleitung und methodologischer Zugang Es besteht hier eine gewisse Parallele zur Interpretation eines Geset- zes. Die objektive Interpretationstheorie geht von der grundlegen (und richtigen) Voraussetzung aus, dass das Gesetz, sobald es die Werkstatt des Gesetzgebers verlassen hat, sein eigenes Leben hat, unabhängig von dem, was sich der Gesetzgeber vielleicht wünschte oder beabsich- tigte. Demgegenüber legt die subjektive Interpretationstheorie das Gesetz im Wesentlichen danach aus, was der Gesetzgeber beabsichtigte. Die subjektive Interpretationstheorie stößt jedoch auf zwei grundlegende Schwierigkeiten: Vor allem auf die Frage, wenn man als Gesetzgeber ansehen soll? Denjenigen, der das Gesetz in Wahrheit geschaffen hat? Wahr- scheinlich nicht, denn die juristischen Experten sind keine Gesetzgeber. Oder den Gesetzgeber im formalrechtlichen Sinn, das Parlament oder den absoluten Monarchen? Diese wissen aber in der Regel nicht viel von ihren Gesetzen. Die zweite Schwierigkeit besteht in der Ablehnung der Wundt- schen Lehre von der Heterogonie der Zwecke des Umstandes nämlich, dass der spätere Interpret das Gesetz aus seinem sozialen, ökonomischen und philosophischen Milieu heraus interpretiert und sich die Interpretation daher mit der Zeit notwendigerweise ändert. Diesen Umstand zu negie- ren ist ein Ding der Unmöglichkeit. Das Gesetz existiert zwar unverändert weiter, aber der Standpunkt des in einem bestimmten Milieu verankerten Interpreten ändert sich mit jeder Änderung dieses Milieus. Gerade dies ermöglicht das Weiterleben des Gesetzes und es bekommt über die Inter- pretation manchmal einen neuen Sinn und eine neue Reichweite. Während man bei einem Gesetz zweifellos der objektiven Interpreta- tionstheorie den Vorrang geben muss, ist die Frage bei der Interpretation eines literarischen oder wissenschaftlichen Werkes nicht so eindeutig zu beantworten. So ist zum Beispiel der besonders pessimistische Unter- ton der Philosophie Arthur Schopenhauers, des Lieblingsphilosophen Weyrs, sowie dessen Neigung zu den indischen Upanischaden, ohne Wer- tung des Milieus, aus dem Schopenhauer stammt, nicht zu begreifen: Wir müssen Rücksicht nehmen auf den frühen Tod seines Vaters, auf 25","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) die Unzufriedenheit Schopenhauers mit dem Leben seiner sonst gewiss hervorragenden Mutter und besonders auf den Misserfolg seiner akade- mischen Karriere. Wir würden daher auch die Philosophie und Rechtsphilosophie von Kelsen und Weyr nicht voll begreifen, wenn wir ihre Persönlich- keit, das Milieu und ihren Lebensstil unbeachtet ließen. Rudolf Aladár Métall gab eine ausgezeichnete Schilderung von Kelsens Persönlichkeit. Was Weyr betrifft, sei es mir erlaubt, schon an dieser Stelle anzufüh- ren, wie meisterhaft sein ältester, heute schon verstobener, Schüler und Fortsetzer seines Werkes, Zdeněk Neubauer anlässlich von Weyrs sech- 12 zigstem Geburtstag, die Persönlichkeit Weyrs geschildert hat: „Weyr ist ein typischer Aristokrat: nach seiner Abstammung, Erziehung, Denkart, seinem Geschmack, seiner Lebensansicht und auch seinem Verhältnisse zu den Men- schen. Ein Individualist und ein Liberaler, ein Liebhaber des Studierens und Philosophierens, aber auch der Schönheit und der Kunst, ein hervorragender Musiker, ein Verehrer der Antike und der Renaissance und gleichzeitig ein Genie- ßer der schönen Literatur. Ein Mann, der die wahre Größe – in welchem Bereich und in welcher Gestalt auch immer – verehrt und die künstlich aufgeblasenen Größen sarkastisch enthüllt und lächerlich macht. Ein Mann, der die Menschen und die Gesellschaft gern hat, obwohl es ihm nicht um seine Beliebtheit geht; ein Mann, der seine Freunde sehr gern haben und seine Feinde verachten kann, der aber nicht zu hassen imstande ist. Ein Mann, der Freundschaft, Charakter und Korrektheit sehr hochschätzt. Ein Mann, der bei gesamter Nonchalance und professorlichen Zerstreutheit das gegebene Wort nie bricht und geradezu ängst- lich auf Pünktlichkeit bedacht ist, ein Mann, manchmal geradezu kindlich zart, empfindsam und mitfühlend, aber zugleich unbarmherzig geradlinig und kom- promisslos dort, wo es um die wissenschaftliche Wahrheit, um Logik, Geschmack und Anständigkeit geht. Ein Mann, der einen ganz einmaligen persönlichen Zauber um sich verbreitet und einen erstaunlichen Humor hat, einmal sprühend und optimistisch, dann wieder pessimistisch und beißend. Weyrs schneidender Witz, die Ironie und die Eleganz seiner Stils, würzen fast alle seine literarischen 12 Neubauer: František Weyr. In: Sborník prací k poctě 60. narozenin Františka Weyra [Sammelband der Arbeiten zu Ehren des 60. Geburtstags Franz Weyrs] (1939), S. 11 ff. 26","A: Einleitung und methodologischer Zugang Äußerungen, was bei einem wissenschaftlichen Autor und besonders bei einem Juristen eine sehr seltene Eigenschaft ist, denn gerade die juristische Literatur ist durch ihre Steifheit und die Trockenheit ihres Ausdrucks berüchtigt. Im Gan- zen könnte man sein savoir vivre durch folgende Ideale charakterisieren: Freiheit und Freude an der wissenschaftlichen Arbeit; logische Wahrheit, künstlerische Schönheit und Geschmack; Freundschaft mit wertvollen Menschen und Zufrie- denheit mit dem gesamten Leben; und das mit dem allem vereinbarenden Maß der Bequemlichkeit eines Bonvivants“. Diese Charakteristik ist ungemein zutreffend. Der Zauber der Per- sönlichkeit Weyrs war ungemein groß. Er hat jeden empfindsamen Zuhörer – obwohl er keinesfalls ein geborener Redner war – bald voll- ständig mitgerissen, und jeder Schüler verehrte ihn. Obwohl die Brünner juristische Fakultät in ihrer Mitte auch andere hervorragende Denker hatte – vor allem denke ich an die gigantische und robuste Erscheinung des ausgezeichneten Nationalökonomen und Logiker Karl Engliš, an den philosophisch und rechtsphilosophisch am besten fundierten Jaroslav Kallab, an den ausgezeichneten Kenner der transzendentalen Phi- losophie Jan Loevenstein, an den ersten normativen Theoretiker auf dem Boden des Zivilrechts und wirklich ausgezeichneten Kenner der gesam- ten Philosophie Jaromír Sedláček und an eine lange Reihe von anderen Denkern – war dennoch Franz Weyr das Haupt dieser ganzen Brünner rechtstheoretischen Schule der normativen Theorie. 27","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) B ZUR ALLGEMEINEN MENSCHLICHEN CHARAKTERISTIK BEIDER PERSÖNLICHKEITEN I Jugend 1. Die Ähnlichkeiten zwischen beiden einander so nahestehenden Män- nern, nicht nur in den rechtstheoretischen Konzeptionen, sondern auch im Leben selbst, sind auffallend. Kelsen wurde am 11. Oktober 1881 in Prag geboren. Als er drei Jahre alt war, übersiedelten seine Eltern nach Wien, wo sein Vater Adolf Kelsen eine kleine Fabrik aufbauen konnte. Weyr wurde am 25. April 1879 im kaiserlichen Wien geboren, wo sein Vater Emil Weyr, ein genialer Mathematiker, schon seit seinem 26. Lebens- jahr als Ordinarius für Mathematik an der Wiener Universität tätig war. 13 Beide Väter, Adolf Kelsen und Emil Weyr, waren – jeder in seinem Fach- bereich – wirkliche Persönlichkeiten. Beide sind bald gestorben. Hans Kelsens Vater starb in seinem 57. Lebensjahr, Franz Weyrs Vater hat sein 46. Lebensjahr nicht erreicht. 14 Beide Söhne hingen an ihren Eltern mit ganz besonderer Liebe. Weyr schreibt in seinen Memoiren: „Ich zweifle, dass jemand schönere, rührendere Erinnerungen an seine Kindheit und erste Jugendzeit haben könnte, als ich und meine Geschwister“. Nach dem Tode von Weyrs Vater heiratete seine Mutter schließlich den Direktor des Prager Akademischen Gymnasiums, Jaroslav Sobička, was Weyrs Übersiedlung nach Prag im Jahre 1898 zur Folge hatte. Beide waren in ihrer Gymnasiastenzeit nur mittelmäßige Schüler und sehr kritisch gegen alle ihre Lehrer. Beide aber waren schon damals 13 Der jüngere Bruder von Emil Weyr, Eduard Weyr, war von seinem 24. Lebensjahr Professor der Technischen Hochschule in Prag; er hat mehrere, auch von der Universität Wien ergangene Berufungen nicht angenommen. 14 Der Onkel von Franz Weyr, Eduard Weyr, starb im Alter von 54 Jahren. 28","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten an der Philosophie interessiert. Beide studierten Schopenhauers Werke, und durch diese sind sie irgendwie, wenn auch keinesfalls ernst und gründlich, zum Studium von Kants transzendentaler Methode gekommen. Über den großen Einfluss Schopenhauers, dessen Philosophie Weyr besonders in der Zeit seiner Studien an der Juristischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag sehr beschäftigte, schreibt Weyr in seinen Memoiren: „… und schrittweise habe ich seine Schriften studiert und stu- diere sie ununterbrochen bis heute. Keine andere Lektüre hat mir auch nur annähernd so großen Genuss und solche Belehrung gebracht. Ich war von dem ungemein scharfen Intellekt dieses Denkers ebenso fasziniert, wie von sei- ner literarischen Kunst und seinem Witz. Durch Schopenhauer habe ich erst in die Tiefe Philosophie Immanuel Kants einzudringen begonnen, die man aus den eigenen, für den Anfänger vielfach unverständlichen Werken dieses Phi- losophen nur sehr schwer begreifen kann. Schopenhauer hat Sinn für Kunst, Humor, Witz und Eleganz, und dies alles fehlte seinem großen Lehrer Kant. Bei der Lektüre keines anderen Schriftstellers habe ich soviel gelacht wie bei jener Schopenhauers (Dickens vielleicht ausgenommen), denn niemand machte sich über die lederne Universitätsgelehrtheit so lustig wie er. Seine Lebensweisheit faszinierte mich und ich trachtete, dass sie die meine werde. Ich habe nie- mals begriffen, wie man einem Philosophen einen schwarzen und trostlosen Pessimismus nur deshalb vorwerfen kann, weil er von etwas behauptet, dass wenig wertvoll sei, was wirklich nur einen geringen Wert hat, nämlich diese armselige Welt, in der wir leben! Schopenhauers Widerwille gegen den spieß- bürgerlichen Optimismus, sein Mitleid und seine Liebe zu den Tieren, seine schroffe individualistisch-philosophische Haltung – dies alles war mir ebenso sympathisch wie sein Maß gegen die Hegelsche Philosophie und Staatstheo- rie, die aus dem Kollektiv… Staat etwas Gottähnliches macht, in dem das arme Individuum, auch wenn es Beethoven oder Kant selbst wären, wie ein klei- nes Rädchen in einer großen Maschine verschwindet. Ich forschte nach allen Biografien Schopenhauers und unternahm … sogar eine Pilgerfahrt nach Frankfurt a. M., wo dieser ‚elegante Philosoph‘ gelebt hatte, gestorben war und begraben wurde. In der heutigen Zeit, die mit der ‚kollektiven‘ Weltanschau- ung vollgeladen ist, gehört allerdings dieser ausgeprägte Erzindividualist 29","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 15 zu den unpopulärsten Denkern; aber dies ist sicher nur vorübergehend – wie all das Schwärmen für das ‚Kollektivum‘ in der Philosophie, Politik und in der schöngeistigen Literatur. Seine Zeit wird wieder kommen.“ Es kommt wenig darauf an, dass Weyr in der Bewertung Schopenhau- ers nicht in allem recht hat. Schließlich hat er sich selbst der Unrichtigkeit überführt, wenn er einerseits Schopenhauers Pessimismus bestreitet, anderseits aber feststellt, dass Schopenhauer dieser armseligen Welt, in der wir leben, nur einen kleinen Wert beimisst. Was anderes wäre dann überhaupt Pessimismus? Noch in einem anderen, und zwar sehr wichtigem Punkt hat Weyr bei der Bewertung der Persönlichkeit Schopenhauers nicht recht, wie man noch später sehen wird. Weyr sieht Kant mit den Augen Schopenhauers. Schopenhauers Auffassung der transzendentalen Philoso- phie Kants ist aber sehr einseitig und vereinfachend; und er begreift auch nicht richtig den Kern der transzendentalen Methode, die vor allem auf der Spontaneität der Vernunft und auf den Ding an sich beruht. In der Philosophie war Schopenhauer unbestritten ein Pessimist, in seinem privaten Leben aber liebte er schöne Dinge und persönliche Bequemlichkeit. Auch in dieser Hinsicht ging Weyr auf seinen Spuren, und dies bis in die kleinsten Kleinigkeiten. Noch ein anderer Denker hatte auf Weyr, vor allem auf seinen lite- rarischen Stil, einen sehr großen Einfluss: Karl Kraus. „Deshalb begrüßte ich“ – schreibt Weyr – „mit großer Sympathie das Auftreten des genialen Sti- listen und unvergleichlichen Meisters der deutschen Sprache Karl Kraus, der gerade in dieser Zeit (sc. am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts) in seiner revolutionären Zeitschrift ‚Die Fackel‘ einen Kampf gegen Benedikt und sein ‚Schandblatt‘ führte. Ich blieb die ganze Zeit hindurch sein treuer Leser und später habe ich auch seine persönliche Bekanntschaft gemacht…“ Und an einer anderen Stelle seiner Memoiren: „Nur ein einziger Mann war imstande, sich allein und ohne jede fremde Hilfe gegen diese journalistische Bestie zu stel- len, die so schändlich die liberale Institution der sogenannten Pressefreiheit missbrauchte: der geniale Stilist und Essayist Karl Kraus mit seiner periodi- schen Zeitschrift ‚Die Fackel‘, deren einziger Korrespondent, Herausgeber und 15 Im Jahre 1940 geschrieben – Anm. des Autors. 30","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Redakteur er lange Jahre hindurch blieb. Diese kleinen Hefte mit rotem Umschlag, in Trafiken verkauft, gewannen im Laufe der Zeit eine unglaubliche Populari- tät unter der intelligenten Leserschaft, besonders in Wien, aber auch anderswo. Kraus kämpfte in ihnen unerschrocken nicht nur gegen die ‚Neue Freie Presse‘, sondern auch gegen die gesamte übrige korrumpierte Presse, deren Verkom- menheit eine Art Vorzeichen des kläglichen Endes war, das durch sie betriebene Regime im Weltkrieg erlebte. Kraus setzte sich für die unschuldigen Opfer dieser Presse ein, die sich nicht wehren konnten, so z. B. für den genialen Philosophen Otto Weininger, den ich hier schon an anderer Stelle erwähnt habe, oder für den Dichter Peter Altenberg u. a. Ebenso scharf griff er aber auch verschiedene Kote- rien an, die durch die Tagespresse und andere Zeitschriften grundlos gelobt und vergrößert wurden … Kraus war gezwungen, eine Reihe von Gerichtsprozes- sen, in die er geraten war, auszukämpfen, überall uneigennützig die Wahrheit, Gerechtigkeit und Anständigkeit verteidigend. In dem ungleichen Kampf mit der mächtigen Feind, der über große finanzielle und technische Mittel verfügte, hatte er auf seiner Seite bloß seine stilistische Meisterschaft, sein Geistreichtum und seinen einzigartigen Humor und Witz. Dieser allerdings war so mörderisch, dass oft ganz Wien über die gelungenen Mystifikationen lachte, deren Opfer besonders die Neue Freie Presse wurde … Kraus war weder ein bloßer Satiriker, noch ein Politiker, noch ein sozialer Reformer, sondern ein tief ethisch veranlagter Künstler des Wortes, dem verschiedene Sphären, in denen er als selbsternannter Kämpfer auftrat, eigentlich nur Anregungen waren, seine einzigartige Zungen- virtuosität geltend zu machen. Durch die Liebe und die Sorge, die er bei jeder Gelegenheit der deutschen Sprache widmete, sowie durch den unversöhnlichen Groll, mit dem er jene verfolgte, die sie bei ihrem Handwerk schändeten (beson- ders die Journalisten), ähnelte er Arthur Schopenhauer. Es war eine Ironie des Schicksals, dass dieser leidenschaftliche Liebhaber und Verehrer der deut- schen Sprache seinem Ursprung nach Jude war und zugleich in gewisser Hinsicht ein wütender Antisemit. Er hütete – ähnlich wie einst Schopenhauer – ängst- lich sein Seelengut und verfolgte jeden unbarmherzig, von dem er annahm, dass er unberechtigt in ihn eingedrungen war. Er war ein Einzelgänger, der grund- sätzlich nur in der Nacht arbeitete und bei Tag schlief und sich am besten fühlte, wenn er in seinem Kampf vereinsamt gegen alle war … Ich denke, dass 31","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) die ständige Lektüre von Kraus Sachen auf meine geistige Entwicklung einen bedeutenden Einfluss hatte, aber ich ahnte damals nicht, dass diese Lektüre eine der Ursachen werden würde, derentwegen sich später die nazistische Gestapo für mich interessierte“. Und es ist merkwürdig, dass dieselben Denker damals auch im Zen- trum der Aufmerksamkeit und Bewunderung bzw. des Hasses von Kelsen 16 standen. Métall informiert uns, dass Kelsen bei der Lektüre philosophi- scher Werke unter den Einfluss seines um zwei Jahre älteren Freundes Otto Weininger geriet, der ihn in seiner frühen Neigung zur Philosophie bestärkte. Weininger arbeitete damals an seiner Dissertation, die später unter dem Titel Geschlecht und Charakter erschien und eines der berühm- testen Werke des ersten Jahrzehntes des 20. Jahrhunderts wurde. „Während aber der katholische Priester Laurenz Müllner Weiningers Doktorarbeit posi- tiv bewertete, wurde sie von Sigmund Freund nicht sehr günstig beurteilt, was Weiningers Freitod am 4. Oktober 1903 im Alter von nicht ganz 24 Jahren beein- flusst haben mag. Als Kelsen die Gedichte von Weiningers Freund Arthur Gerber, der August Strindberg zum Nachruf auf Otto Weininger in der von Karl Kraus herausgegebenen ‚Fackel‘ veranlasst haben dürfte, als mittelmäßig bezeichnete, war zwischen den jungen Leute eine Entfremdung eingetreten … Otto Weiningers Persönlichkeit und der posthume Erfolg seines Werkes dürften jedenfalls Kelsens Entschluss, sich der wissenschaftlichen Arbeit zu widmen, sehr wesentlich beein- flusst haben“. 17 2. In der Zeit seiner Studien an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien haben auf Kelsen nur zwei Gelehrte Ein- druck gemacht: Leo Striszower mit seiner Vorlesung über die Geschichte der Rechtsphilosophie, in der Kelsen zum ersten Mal von Dante Ali- ghieris Schrift De Monarchia Kenntnis nahm, über die und später noch vor der Beendigung seines Studium im Jahre 1905, sein erstes Buch Die Staatslehre des Dante Alighieri veröffentlichte; und Edmund Bernatzik, ein Professor von großem Scharfsinn und besonders kritischer Einstellung. 16 Métall: l. c., S. 6. 17 Métall: l. c., S. 6. 32","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Kelsen promovierte am 18. Juni 1906 zum Doktor juris. Weyr studierte an der Juristischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag, wo damals hervorragende Gelehrte, wie Pražák, Heyrovský, Randa, Ott, Tilsch u. a. wirkten. Einen besonders starken Eindruck auf ihn aber machte der hervorragende tschechische Philosoph František Krejčí, der als Ordinarius für Philosophie an der philosophischen Fakultät tätig war. Die Doktorwürde erlangte Weyr im Jahre 1904 und er entschloss sich bald, sich um die Habilitation für die Verwaltungslehre, für das Verwal- tungsrecht und Statistik an der Juristischen Fakultät der tschechischen Karlsuniversität in Prag auf Grund seiner Schrift aus dem Jahre 1908 Příspěvky k theorii nucených svazků [Beiträge zur Theorie der Zwangsver- bände] zu bewerben, die zusammen mit seiner Abhandlung Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems schon die Hauptgedanken der zukünfti- 18 gen Normativen Rechtstheorie (Reinen Rechtslehre) enthielten. In seiner Habilitationsschrift hat Weyr den grundsätzlichen Unterschied zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht bestritten und ist so in absoluten Gegensatz zu der offiziellen Meinung der ganzen Rechtswissenschaft geraten. Er hat das Glück gehabt, dass sich beim Habilitationskolloquium nur Prof. Emanuel Tilsch, wahrscheinlich der genialste tschechische Rechtsdenker, ein tief philosophisch geschulter Geist, ein ungemein edler und toleranter Mensch, mit ihm unterhielt. So wurde Prof. Tilsch der wahre Begründer von Weyrs akademischer Laufbahn. Das tragische Schicksal dieses tschechischen Genius ist übrigens gut bekannt, ebenso wie sein unvergleichliches Lehrbuch des allgemeinen Teiles des bürger- lichen Rechts und seine Sammlung von philosophischen Aphorismen. Der Prüfungsvortrag fand am 17. Dezember 1908 statt. Die Bestätigung des Ministeriums wurde im März 1909 erteilt; bereits vorher zu Weih- nachten 1908, war Weyr in den Dienst des Kulturministeriums in Wien getreten, nachdem er vorher an der Wiener Statthalterei, bei der ersten politischen Instanz und dann bei der zentralen statistischen Kommission in Wien tätig war. 18 Weyr: l. c., AöR, Jg. XXIII (1908), S. 529-580. 33","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Im September 1909 musste Weyr nach Prag übersiedeln, weil die Pra- ger juristische Fakultät verständlicherweise verlangte, dass zu ihren Dozenten keine distantia loci bestand. Er begann bei der statistischen Lan- deskommission des tschechischen Landesausschusses zu arbeiten; sein Leiter war Dr. Dobroslav Krejčí, später Professor der Statistik an der juris- tischen Fakultät in Brünn. Im ganzen verbrachte Weyr 27 Jahre in Wien, und das Leben in Wien hat unbestritten seine ganze Persönlichkeit geprägt. 3. Kelsens Hauptprobleme der Staatsrechtslehre entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze sind nach mehr als fünfjährigen Vorarbeiten im Jahre 1911 erschienen. Aufgrund dieser Schrift wurde Kelsen im Sommer 1911 als Privatdozent für Staatsrecht und Rechtsphilosophie an der Wiener Juristischen Fakultät zugelassen und im Herbst 1911 begann er seine Vor- lesungen. Diese Habilitationsschrift ist im Schrifttum kühl aufgenommen worden und in der ersten Zeit hat – neben Ewald – nur Weyr diese Schrift mit Lob und Bewunderung bedacht. 19 Weyr hat Kelsen im Seminar von Edmund Bernatzik in Wien kennen- gelernt. In seinen Memoiren schreibt er darüber: „Unter den Besuchern des Seminars, die größtenteils schon absolvierte Juristen waren, blieb mir ein gewandter, temperamentvoller junger Doktor von kleiner Gestalt und ausge- zeichneter Beredtheit in Erinnerung, mit dem ich aber damals persönlich nicht verkehrte… Es war mein späterer vertraulicher Freund und treuer wissen- schaftlicher Gefährte, der heute berühmte Hans Kelsen. Dieser vereinigte, als er Professor wurde, alle guten Eigenschaften in sich. Er war nicht nur ein großer Gelehrter und Schriftsteller, sondern auch ein ausgezeichneter Vortragender und hervorragender Lehrer, zu dem Schüler aus allen Teilen der Welt strömten“. Dies alles geschah noch vor Weyrs Habilitation. 19 Weyr: Nová teorie státního práva [Eine neue Theorie des Staatsrechts], Sborník věd práv- ních a státních, Jg. XIII. (1913), S. 185-195. 34","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten II Der weitere Lebenslauf 1. Schon am 1. November 1912 wurde Weyr zum außerordentlichen Profes- sor der Rechtswissenschaften an der Tschechischen Technischen Hochschule in Brünn ernannt. Ordentlicher Professor für das Verfassungsrecht wurde er am 23. Juli 1919 an der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität in Brünn. Dekan dieser juristischen Fakultät war er in den Jahren 1919–1920, 1927–1928, 1935–1936 und Rektor der Masaryk-Universität in Brünn im Jahre 1923–1924. In der ersten tschechoslowakischen Republik war er auch Präsi- dent des Statistischen Staatsamtes. Wegen der Schließung der tschechischen Hochschulen durch die natio- nalsozialistischen deutschen Besatzer konnte er von Herbst 1939 bis Mai 1945 keine Vorlesungen halten, aber umso mehr hat er wissenschaftlich gearbeitet. Von der Gestapo verhaftet, verdankt er es nur seinem treuen Freund, dem damaligen Präsidenten Dr. Emil Hácha, früher dem I. Präsiden- ten des Obersten Verwaltungsgerichtes, einem ungemein edlen Mann und wirklich großen Juristen, dass er doch entlassen wurde. Von Mai 1945 bis März 1948 – obwohl schon schwer herzkrank – hielt er in glänzender Weise seine Vorlesungen an der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität; dann wurde er vorzeitig in den Ruhestand versetzt. Geistig immer in blen- dender Form widmete er sich intensiv seiner geliebten wissenschaftlichen Arbeit. Er starb am 29. Juni 1951 im Alter von 72 Jahren – zum unersetzli- chen Verlust der Wissenschaft. 2. Kelsen wurde nach vielen Schwierigkeiten im Juli 1918 etatmäßiger außerordentlicher Professor an der Juristischen Fakultät der Universität Wien. Noch 1919 wurde er ordentlicher Professor für Staats- und Verwal- tungsrecht an derselben Universität. Während des akademischen Jahres 20 1921–1922 war er Dekan der juristischen Fakultät. Vom November 1930 bis Anfang 1933 wirkte er als Ordinarius für Völ- kerrecht an der Universität Köln, wo er für das Jahr 1932–1933 zum Dekan der rechtswissenschaftlichen Fakultät gewählt wurde. 20 Métall: Hans Kelsen. Leben und Werk (1969), S. 28. 35","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) In den Jahren 1921 bis 1930 übte Kelsen als Nebenamt die Funktion eines „auf Lebensdauer“ ernannten Mitglieds des Verfassungsgerichtsho- fes und eines ständigen Referenten dieses Tribunals, dessen eigentlicher Schöpfer er war. In den Jahren 1933 bis 1940 wirkte Kelsen an dem Genfer Institut Univer- sitaire des Hautes Études Internationales als Gastprofessor und in den Jahren 1936 bis 1938 auch an der Juristischen Fakultät der Prager Deutschen Uni- versität als ordentlicher Professor für Völkerrecht. Es war dies vor allem das Verdienst seines besten Freundes Weyr, der in der Tschechoslowakei damals eine große wissenschaftliche, menschliche und gewissermaßen auch politische Autorität genoss, und von Professor Franz Xaver Weiss. 21 Im Sommer 1940 kam Kelsen in die Vereinigten Staaten von Amerika und folgte einer Einladung Roscoe Pounds nach Cambridge, Massachusetts, an die Harvard Law School, wo er schon 1934 das Ehrendoktorat erhalten hatte. Im Jahre 1942/1943 begann Kelsen seine Tätigkeit an der University of California in Berkeley, wo er später zum „full professor“ ernannt wurde. Am 25. April 1950 wurde er in den Ruhestand versetzt. Seine unermüdli- che wissenschaftliche Arbeit, verbunden mit vielen Vorträgen in Amerika und Europa, dauerte aber weiter – man kann sagen bis zu seinem Tod am 19. April 1973 in Berkeley, Kalifornien, an. Das Schicksal war für Kelsen – trotz vieler Rückschläge – doch günstig. Schon die Erreichung des 93. Lebensjahres in voller geistiger Kraft ist ein unendliches Geschenk. 3. Über das Leben und Werk Kelsens, insbesondere im Bereich der Rechtsphilosophie und Rechtstheorie, der Staatslehre und der Völ- kerrechtswissenschaft wurden von Gelehrten aus aller Welt und aus allen 21 Z.B. besonders Métall: l. c., S. 77 ff. 36","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten 22 Kulturstaaten Tausende und Tausende von Seiten geschrieben. Weni- ger Bescheid über das Leben und Werk von Weyr. Deswegen möchte ich hier etwas näher zu diesem Fragenkomplex Stellung nehmen. Der Beginn seiner wissenschaftlichen Tätigkeit wurde sicher durch seinen Eintritt in die Verwaltungspraxis bestimmt. Seine ersten Arbeiten betreffen daher 23 das Verwaltungsrecht, vor allem das Gewerberecht. Diese Arbeiten stam- men aus dem Jahr 1904. Der Umstand, dass die Praxis oft für die wissenschaftliche Tätigkeit bestimmend ist, wird auch dadurch bestätigt, dass Weyr mit seinem Ein- tritt in die Dienste der Zentralen Statistischen Kommission in Wien und mit seinem späteren Überdritt in die Dienste der Statistischen Landeskanzlei 22 Vgl. besonders Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 331-380; Sedláček: Il concetto realistico ed il concetto normologico della norma iuridica. Contributo al realisme giuridico de Duguit ed alla teoria pura del diritto del Kelsen [Der realistis- che und der normologische Begriff der Rechtsnorm. Ein Betrag zum Rechtsrealismus von Duguit und zu Kelsens Reiner Rechtslehre], Rivista internazionale de filosofia del diritto, Jg. XIII (1933), S. 153 ff.; Ebenstein: Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938); Métall: Hans Kelsen. Leben und Werk (1969); Merkl-Verdross-Marcic-Walter (Hg.): Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (1971); Walter: Kelsens Rechtslehre im Spiegel rechtsphilosophischer Diskussion in Österreich, öZföR, Jg. XVIII (1968), S. 331 ff.; derselbe: Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie (1970), S. 96 ff.; derselbe: Hans Kelsens Reine Rechtslehre. In: Hans Kelsen zum Gedenken (1974), S. 37 ff.; Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947), S. 45 ff.; derselbe: Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Normen und die Zukunft der Reinen Rechtslehre, öZföRuV, Jg. 31 (1980), S. 155 ff. 23 Weyr: O živnostenských právech obchodních společností [Über die Gewerberechte der Handelsgesellschaften], Právník (1904); Der unbefugte Gewerbebetrieb, Juristische Blätter (1905); O významu živnostenské novely z roku 1907 [Über die Bedeutung der Gewerbenovelle 1907], Právník (1907); K výkladu § 56 živnostenského řádu [Zur Auslegung des § 56 der Gewerbeordnung], Správní obzor (1909); Zur Frage der Zulässigkeit der Leichenverbrennung nach österreichischen positiven Recht, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung (1908); Žaloba pro odpíranou spravedlnost [Die Klage wegen der verweigerten Gerechtigkeit], Správní obzor (1909); O trestní pra- vomoci politických úřadů [Über die strafrechtliche Befugnis der politischen Behörden], Sborník věd právních a státních (1910); Povinnost provozování živností a uzavírání smluv [Die Pflicht Gewerbe zu betreiben und die Verträge abzuschließen], Sborník věd práv- ních a státních (1911); vgl. Horáček jn.: Prof. Dr. František Weyr jako státovědec [Prof. Dr. Franz Weyr als Staatswissenschaftler], Pamětní spis státního úřadu statistického jeho prezi- dentu Prof. Dr. Františku Weyrovi k jeho 50. narozeninám [Die Denkschrift des statistischen Staatsamtes seinem Präsidenten Prof. Dr. Franz Weyr zu seinem 50. Geburtstag] (1929). 37","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) des Böhmischen Königreichs – wenigstens für eine Übergangszeit – für die Statistik gewonnen wurde. 24 Die erste statistische Studie Weyrs war aus dem Bereich der Wirt- schaftsstatistik. Dieses Thema zwang Weyr, sich auch mit methodischen Fragen zu beschäftigen. Das Ergebnis dieser Untersuchung war ein gemeinsamer Artikel von Weyr und Pfaundler Die stichprobenweisen Vieh- schätzungen, eine kritisch-methodologische Untersuchung in der Statistischen Monatsschrift aus dem Jahre 1906. Danach hatte Weyr die Aufgabe, die Stra- ßenstatistik zu bearbeiten; die Ergebnisse wurden in seiner weiteren Studie Das österreichische Straßenwesen in der Statistischen Monatsschrift aus dem Jahre 1907 veröffentlicht. Dann publizierte Weyr eine umfangreiche statistische Studie Živnostenská práce žen [Die gewerbliche Arbeit der Frauen], die im Jahr 1909 in Sborník věd právních a státních erschien. Seine Praxis in der statistischen Landeskanzlei des Böhmischen Königreichs führte Weyr zur Statistik der Finanzwirtschaft der Selbst- verwaltungskörperschaften. Hier sind seine Arbeiten Výdaje a příjmy okresních zastupitelstev v království Českém v letech 1900–1909 [Die Ausgaben und die Einkünfte der Bezirksvertretungen im Böhmischen Königreich in den Jahren 1900–1909] und Jmění a dluhy 134 zastupitelských okresů království Českého dle stavu ze dne 1. ledna 1900 a 1910 [Das Vermögen und die Schulden von 134 Vertretungsbezirke des Böhmischen Königreichs nach dem Stand vom 1. Jänner 1900 und 1910], die in den Zprávy zemského statistického úřadu (Jg. XVI) veröffentlicht wurden, zu erwähnen. Neben der Finanzstatistik, zu der er später, im Jahre 1915, in der Zeit- schrift Národohospodářský obzor noch die Abhandlung Statistika obecních výdajů a příjmů v roce 1907 [Statistik der Gemeindeausgaben und -einkünfte im Jahre 1907] geschrieben hat, widmete sich Weyr der Statistik der sozia- len Fürsorge für die Studentenschaft und publizierte 1910 in derselben Zeitschrift eine Abhandlung Statistika sociální péče o studentstvo v Čechách [Statistik der sozialen Fürsorge für die Studentenschaft in Böhmen]. 24 Dazu besonders Boháč: Prof. Dr. Frant. Weyr jako statistik [Prof. Dr. Franz Weyr als Statistiker], die oben zitierte Denkschrift des statistischen Staatsamtes. 38","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Als im Jahre 1912 Prof. Karel Engliš im Zusammenhang mit seinen Vorlesungen über die Statistik an der Tschechischen Technischen Hoch- schule in Brünn unter den Hörern der Technik eine Enquete veranstaltete, die die schulischen, finanziellen, sozialen und – bis zu einem gewissen Grad – auch die intellektuellen und moralischen Verhältnisse der dama- ligen Studentenschaft umfassend darstellen und so eine Grundlage für spätere soziale Maßnahmen zu ihren Gunsten bieten sollte, und parallel mit ihr auch eine ähnliche, ergänzende Aktion von dem Studentenverband unternommen wurde, wurde die Bearbeitung beider Fragebögen Weyr anvertraut. Daraus ging Weyrs Artikel Vysokoškolská anketa studentstva v Brně r. 1912 [Die Hochschulenquête der Studentenschaft in Brünn 1912], der in der Zeitschrift Správní obzor 1911 publiziert wurde, hervor. Eine interessante Abhandlung veröffentlichte Weyr in der Zeitschrift Sborník věd právních a státních, (1910/1911), und zwar Problém svobody vůle a statistika [Das Problem der Willensfreiheit und die Statistik]. Weyr äußert sich hier – wahrscheinlich unter dem Einfluss von Arthur Schopenhauer – als Determinist und betrachtet den konsequenten Determinismus als einzige mögliche Grundlage jedweder nomothetischen wissenschaftlichen Tätigkeit und auch als Grundlage und Bedingung der Statistik der Moral. Er meint weiter, dass die statistischen Daten nur gewisse Regelmäßigkei- ten in kausalen sozialen Erscheinungen aufdecken; da die Regelmäßigkeit in diesen statistischen Daten das Ergebnis zweier Faktoren sei (der Ursa- chen und der auf bestimmte Ursachen unterschiedlich reagierenden menschlichen Charakteren), könne man die Unfreiheit des menschlichen Willens dadurch nicht beweisen. Im Jahre 1911 publizierte Weyr im Rahmen einer Enquete über die Volks- zählung, die die Redaktion der Tschechischen Revue veranstaltete, einen bedeutenden Artikel Positive Reformvorschläge. Hier bewertete er nicht nur kritisch die Grundfragen der österreichischer Nationalitätenstatistik, sondern auch einen konkreten Vorschlag für eine Reform dieser Statistik aus, der von den tschechischen Abgeordneten der österreichischen Regie- rung im Jahre 1914 als ein Memorandum vorgelegt wurde. 39","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Im Jahre 1911 schrieb er in der Zeitschrift Správní obzor über die statisti- sche Kompetenz. In seiner Abhandlung Die Statistik an den tschechischen Hochschulen und Ämtern, die im Jahre 1912 in der Zeitschrift Sborník věd právních a státních veröffentlicht wurde, liefert er eine Auslegung des Begriffs „Statistik“. Es ist nicht uninteressant, dass Weyr nach der Gründung der Tsche- choslowakei im Jahre 1918 Präsident des neuen Statistischen Amtes und Vorsitzender des Statistischen Rates wurde. Dies führte ihn selbst- verständlich wieder näher zur Statistik. Er hat eine sehr interessante Abhandlung Le rêglement des elections à la Chambre des députés tchécoslova- ques et le recensement du 15. février 1921 in der Zeitschrift Československý statistický věstník (Jg. IV) veröffentlicht. In ihr vergleicht er die Ergebnisse der Wahlen zur Nationalversammlung im Jahre 1920 mit den nationalen Verhältnissen, wie sie sich in der ersten tschechoslowakischen Volkszäh- lung zeigten, und beweist die Übereinstimmung zwischen beiden Daten und damit auch die Richtigkeit der Nationalitätenstatistik. Anlässlich von Weyrs 50. Geburtstag widmete das Statistische Staatsamt seinem Präsidenten eine Denkschrift, in der sein späterer Nachfolger Anton Boháč unter anderem schreibt: „Es gibt wenige zeitgenös- sische tschechische Wissenschaftler, die so vielseitig tätig sind wie Prof. Weyr. Sein eigentliches Tätigkeitsfeld ist das Verfassungsrecht und das Verwaltungs- recht sowie die Rechtsphilosophie, nicht aber die Statistik. Und dennoch, wie viele kürzere und längere Studien und Arbeiten aus der Statistik hat Prof. Weyr schon geschrieben. Sie entbehren allerdings systematischer Bearbeitung, sie streben nicht nach einem bestimmten Ziel, aber sie zeigen, was Prof. Weyr in der tschechischen Statistik hätte werden können, wenn er sie zum Hauptfach seiner wissenschaftlichen Arbeit gewählt hätte. … Was er für die Organisation der tschechoslowakischen Statistik und unserer statistischen wissenschaftlichen Arbeit im ersten Jahrzehnt unseres Staates geleistet hat, sicherte ihm schon einen dauernden Platz in der Geschichte der tschechoslowakischen Statistik“. Wie schon angedeutet wurde, fesselten die grundlegenden Pro- bleme der Rechtswissenschaft überhaupt und besonders des öffentlichen Rechts insbesondere schon frühzeitig Weyrs Aufmerksamkeit. Im Jahre 40","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten 1908 entstand Weyrs erste große Schrift Příspěvky k teorii nucených svazků [Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände], in der die Begriffe des öffent- lichen Rechts und des Privatrechts Mittelpunkt seines Interesses sind, wobei er scharf gegen diesen Dualismus auftritt, der in der herrschenden Lehre üblich war und ist; er lehnt auch die Unterscheidung der Ansprüche und der Verbindlichkeiten in privat- und öffentlich-rechtliche ab und – de lege ferenda – ebenso die analoge Unterscheidung der Verbände. Diese Arbeit wird heutzutage in der rechtsphilosophischen Weltliteratur als erste Arbeit der Schule der Reinen Rechtslehre angesehen. Die Grundfragen, die die grundlegenden Rechtsbegriffe betreffen, werden dann zum Gegenstand der Aufmerksamkeit weiterer Arbeiten von Weyr. Vor allem ist es seine berühmte Studie aus dem Jahre 1908 Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems (Archiv für öffentliches Recht), in der er die Verschiedenartigkeit der Rechtswissenschaft von den exakten Wissenschaften, sowie die Notwendigkeit betont, in der Rechtswissen- schaft mit einer ganz anderen, nämlich mit der normativen Methode, vorzugehen. In ähnlichen Geist ist auch Weyrs Abhandlung Příspěvek k teorii časově omezených zákonů [Ein Beitrag zur Theorie der zeitlich begrenzten Gesetze] in der Zeitschrift Právník (1910) geschrieben. Der Problematik des österreichischen Verfassungsrechts ist die Schrift Rahmengesetze (Wiener staatswissenschaftliche Studien, 1913) gewidmet, sowie eine Abhandlung Rámcové zákony [Rahmengesetze] in der Zeit- schrift Právník (1912). Hier behandelt Weyr eine damals brennende Frage des österreichischen Verfassungsrechtes, nämlich das Kompe- tenzverhältnis zwischen der Reichs- und der Landesgesetzgebung bei jenen Reichsgesetzen, die Landesgesetzen eine ausführlichere Regelung, von denen ihre Geltung oft abhing, überließen. Noch in der Zeit, als Weyr als Professor der Rechtswissenschaften an der Technischen Hochschule in Brünn wirkte, entstand im Jahre 1918 die Schrift Patentní právo rakouské [Das österreichische Patentrecht], und zwar im Jahre 1918. 41","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Sogar das Zivilrecht, mit besonderer Rücksicht auf das Familienrecht, war Gegenstand von Weyrs Interesse. Gemeinsam mit Engliš hat Weyr im selben Jahr eine Studie „Das Rechtsverhältnis zwischen geschiedenen Eltern und ihren Kindern“ veröffentlicht. Im Vordergrund seines Interesses standen aber von allem Anfang an rechtstheoretische Fragen. So hat er im Jahre 1912 in der Zeitschrift Sborník věd právních a státních eine sehr interessante Abhandlung mit dem Titel Právní věda. Dvě kapitoly z metodologie a filozofie práva [Die Rechts- wissenschaft. Zwei Kapitel aus der Methodologie und der Philosophie des Rechts] veröffentlicht, in der er eine kritische Analyse der historischen Rechtsschule vornimmt und dabei scharf gegen die Anwendung der sozio- logischen Methoden in den Rechtswissenschaften auftritt. Außerdem polemisierte er in den Abhandlungen Zur Theorie des natürli- chen Rechtes (Archiv für Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1913), und Nauka o právních pramenech a novější spory o ní [Die Lehre von den Rechtsquellen und neuere Streitigkeiten über sie], gleichfalls aus dem Jahr 1913, gegen die rechtssoziologische Schule und gegen die Schule der freien Rechtsfin- dung und beschäftigte sich dabei mit der Problematik der formellen und materiellen Lücken im Recht. Ebenfalls bemerkenswert sind seine weiteren Abhandlungen Über zwei Hauptpunkte der Kelsenschen Staatsrechtslehre (Zeitschrift für das gesamte private und öffentliche Recht, 1914) und Die Idee der Rechtskontinuität und die Theorie der sog. faits accomplis (Sborník věd právních a státních, 1916), in denen er sich besonders mit der Lehre des großen Rechtstheoretikers Bernatzik beschäftigt, die Mängel der historischen Rechtsschule und der Machttheorie aufdeckt und die Notwendigkeit eines einheitlichen Aus- gangspunktes bei der Beurteilung der Geltung von Rechtsnormen betont. Vaihingers großes philosophisches Werk Die Philosophie des Als Ob hat den jungen Weyr sehr gefesselt, und er hat im Jahre 1917 eine Abhandlung Bemerkungen zu Vaihingers Theorie der juristischen Fiktionen in der Rheini- schen Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht veröffentlicht. Von seinen weiteren Abhandlungen sind wenigstens folgende zu erwähnen: Formální a materiální filozofie práva [Formale und materiale 42","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Rechtsphilosophie] in der Zeitschrift Naše doba, 1917, Otto Mayerův správní akt [Otto Mayers Verwaltungsakt] in der Zeitschrift Právník, 1915 und Zur Lehre von den konstitutiven und deklaratorischen Akten (Österr. Zeitschrift für öffentliches Recht, 1918), in der er die geläufige Unterscheidung der Verwal- tungsakte in konstitutive und die deklaratorische scharf kritisiert. Auch die Problematik des Völkerrechts war Gegenstand von Weyrs wis- senschaftlichem Interesse. In diesem Zusammenhang ist es angebracht, Weyrs Abhandlung Zur Konstruktion des Völkerrechts (Archiv für öffentli- ches Recht, 1915) anzuführen, wo er sich mit dem Bemühen von Alfred Verdross, dem ersten normativen Theoretiker in der Disziplin des Völ- kerrechts und unbestritten dem tiefsten rechtsphilosophischen Denker der Schule der Reinen Rechtslehre, die Normative Theorie auf das Völker- recht anzuwenden, beschäftigt. Erwähnt seien ferner Weyrs Abhandlung Vliv Haagských konferencí na vývoj práva mezinárodního [Der Einfluss der Haager Konferenzen auf die Entwicklung des Völkerrechts] in der Zeit- schrift Zprávy Moravské právnické jednoty, 1916, und vor allem aber Weyrs Schrift Soudobý zápas o nové mezinárodní právo [Der gegenwärtige Kampf um das neue Völkerrecht] aus dem Jahre 1919 zu nennen; hier legt er seine Ansichten über die Mängel des bisherigen Völkerrechts dar, berücksich- tigt vor allem den Mangel an Durchsetzbarkeit der völkerrechtlichen Verbindlichkeiten sowie die Mängel der Versuche, das Völkerrecht zu kodi- fizieren, beschreibt das Problem des Verhältnisses der Staatssouveränität zum Völkerrecht, vergleicht das Völkerrecht, solange es nicht von einer überstaatlichen, die Einhaltung der völkerrechtlichen Verbindlichkeiten garantierenden Macht organisiert wird, mit dem Ehren-duellkodex, des- sen letztes Mittel die Entscheidung durch Kampf ist, und folgert daraus die Notwendigkeit eines überstaatlichen Rechtes und eines Majoritäten- systems im zukünftigen Staatenbund. Es ist klar, dass mit Weyr schon eine reife wissenschaftliche Persön- lichkeit nach Brünn kam – ebenso wie es auch bei Karel Engliš, Jaroslav Kallab und noch manchen anderen war. 43","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Damit begann eine Periode erhöhter wissenschaftlicher und pädagogi- scher Tätigkeit für Weyr; in diese Periode fallen Weyrs Hauptwerke aus dem Gebiet der Rechtsphilosophie, aber auch des Verfassungsrechtes und des Verwaltungsrechtes. In das Gebiet der Rechtsphilosophie gehört vor allem sein grundlegendes Werk Základy filozofie právní – Nauka o poznávání právnickém [Die Grund- lagen der Rechtsphilosophie – Die Lehre vom juristischen Erkennen] aus 25 dem Jahre 1920. Hier stellt Weyr fest: „Jede Lehre (Wissenschaft) hat ihre noetischen Grundlagen der Erkenntnis (des Denkens) überhaupt – sind allen Lehren gemeinsam. Daneben aber sind … spezielle Noetiken für einzelne Berei- che der Erkenntnis möglich. Der Begriff ‚des Bereiches‘ bedeutet hier soviel wie ‚Gesichtspunkt‘. In diesem Sinne können wir daher von einigen Philosophien (im formalen Sinne als von Methoden der Erkenntnis) sprechen, wie von einer Philosophie der Mathematik, der Naturwissenschaften und schließlich auch der Rechtsphilosophie.“ „So formal verstanden, nähert sich unsere Rechtsphilo- sophie begrifflich dem, was man oft ‚allgemeine Rechtstheorie‘ nennt, wodurch angedeutet werden soll, dass man in ihr die höchsten (also die allgemeinsten) Rechtsbegriffe behandelt. Das Ziel beider Disziplinen ist vielleicht das gleiche, die Wege aber, auf denen man zu ihnen gelangt, sind verschieden, und deshalb wurde diese Schrift absichtlich ‚Rechtsphilosophie‘ benannt. Wenn wir nämlich den gewöhnlichen Weg betrachten, den die sog. allgemeinen Rechtstheorien oder die allgemeinen Rechts- und Staatswissenschaften zu ihrem Ziel gehen, erken- nen wir leicht, dass ihr methodischer Standpunkt sich vollkommen der Methode widersetzt, die wir hier als typisch noetisch bezeichnet haben. Das Mittel, welches eine solche allgemeine Theorie verwendet, um zu ihren allgemeinen Begriffen zu gelangen, ist nämlich sukzessive Abstraktion der konkreten Begriffe, und dies durch verschiedene Vergleiche ihres Inhaltes und durch Ausschluss der begriff- lichen Eigenschaften, welche nicht bei allen verglichenen Einheiten vorhanden sind. Das, was nach dem Ausschluss der scheinbar ‚zufälligen‘ Eigenschaften übrigbleibt, ist für sie ein ‚gemeiner Begriff‘. So gelangt z. B. die allgemeine Staatslehre zum allgemeinen Begriff ‚Staat‘ durch den Vergleich einiger konkre- ter Staaten, aus denen sie Begriffsmerkmale aussucht, welche diesen konkreten 25 Weyr: l. c., S. 7 ff. 44","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Staaten, welche diesen konkreten Einheiten gemeinsam sind (wie z. B. die Sou- veränität des Gebietes, die beherrschte Nation u. ä.). Es ist wahrlich erstaunlich und zugleich ein Beweis des Mangels an echter wissenschaftlicher Noetik, dass ein solches Beginnen, dem wir in den staatswissenschaftlichen Schriften fort- während begegnen, seine eigene durchsichtige Unlogik nicht bemerkt hat: Wie kann man zum Zweck der Feststellung des Begriffs ‚Staat‘ einige konkrete Staaten vergleichen, wenn der Begriff des Staates noch unbekannt ist? Woher erfahre ich, dass das, was ich vergleiche, tatsächlich Staaten sind, und wie kann ich hoffen, 26 dass ich durch einen solchen Vergleich zum allgemeinen Begriff ‚Staat‘ gelange? Den Begriff des Staates finden wir also nicht durch den Vergleich einiger konkre- ter Einheiten, die man gewöhnlich (populär) ‚Staaten‘ nennt. … Welcher ist also der richtige Weg? Einzig der, welcher sich den noetischen Standpunkt, von dem aus er erkennen will, vergegenwärtigt. Das Problem lautet dann: Wie soll man einen bestimmten Begriff (in unserem Fall ‚Staat‘) konstruieren, damit diese Konstruktion mit dem gewählten noetischen Standpunkt übereinstimmt? Was gerade über den Begriff des Staates gesagt wurde, gilt – im Bereich der Noetik des Rechts – für eine ganze Reihe anderer Begriffe, wie Pflicht, Norm, juristi- sche Person usw. Es gibt nichts Verkehrteres als die Ansicht, dass diese zentralen Begriffe der juristischen Anschauung gewissermaßen in verschiedenen Rechts- ordnungen ‚verborgen‘ sind und dass man sie daher durch ein fleißiges Studium dieser Ordnungen aufdecken kann. Mit dieser Ansicht hängt eine andere zusam- men, die annimmt, dass diese Begriffe in verschiedenen Rechtsordnungen, vielleicht sogar in einzelnen Normen derselben Ordnung, eine verschiedene Bedeutung, einen verschiedenen Inhalt oder Sinn haben können. Wahr ist im vielmehr, dass man ohne diese zentralen Begriffe überhaupt keine Rechtsord- nung verstehen kann, dass sie daher Voraussetzung sind und nicht das Ziel ihres Studiums sein können. Und gerade die Festsetzung dieser Begriffe ist die Auf- gabe der allgemeinen Rechtstheorie oder der Rechtsphilosophie im formalen Sinn. Während die Aufstellung der Rechtsordnung dem Gesetzgeber zusteht, ist die Schaffung der Rechtsbegriffe als Mittel zur Erkenntnis jener Ordnungen das ausschließliche Privilegium der Wissenschaft. Die Definition eines Begrif- fes, die noetisch verfehlt ist, gilt nicht, auch wenn sie alle Gesetzgeber der Welt 26 Schmitt: Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1914), S. 41. 45","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) in ihre Rechtsordnungen aufnehmen und mit ihr als mit einer Richtigen arbei- ten würden. Im Gegenteil, es gilt die noetisch richtige Definition, auch wenn sich alle Ordnungen und Judikaturen gegen sie stellen. Der Rechtsordnung gebührt es, die Normen festzusetzen, nicht autokratisch die Begriffe zu definieren, durch die die Normen erkannt werden sollen“. Weyr ist ein Verkünder des noetischen Dualismus: des Seins und des Sollens. Das sind nach ihm zwei noetische Gesichtspunkte, durch die sich der erkennende menschliche Geist dem „Ding an sich“ nähert, und zwei Welten, die Welt des Seins und die Welt des Sollens bildet. Den Höhepunkt des rechtsphilosophischen Lebens Weyrs stellt dann sein berühmtes Werk aus dem Jahre 1936 Teorie práva [Theorie des Rechts] dar. Die Tragfähigkeit seiner Noetik konnte Weyr an jenen juristischen Bereichen zeigen, deren offizieller Vertreter an der Universität er war, 27 nämlich an dem Verfassungsrecht und an dem Verwaltungsrecht. Er hat eine große Reihe von Schriften und Abhandlungen aus diesen wissen- schaftlichen Bereichen veröffentlicht. Ich möchte hier nur sein System des tschechoslowakischen Staatsrechts, das im Jahre 1938 schon im seiner 3. Auflage unter dem Titel Československé ústavní právo [Das tschechoslowa- kische Verfassungsrecht] erschien, und weiter seine Werke Československé právo správní, část obecná [Das tschechoslowakische Verwaltungsrecht, Der allgemeine Teil] und Správní řád [Die Verwaltungsordnung], nennen. Weyr hat mit Engliš eine neue juristische Zeitschrift Časopis pro právní a státní vědu gegründet und stand lange viele Jahre an ihrer Spitze. In die- sem Zusammenhang muss auch die Gründung der internationalen rechtstheoretischen Zeitschrift Revue internationale de le théorie du Droit – Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts, zusammen mit Hans Kelsen, erwähnt werden. Auch Léon Duguit war neben Kelsen und Weyr Heraus- geber dieser zweisprachigen (deutsch und französisch) erscheinenden Zeitschrift, die zuerst von Jaromír Sedláček, dann ab 1934 von Rudolf A. Métall redigiert wurde. 27 Neubauer: František Weyr. In: Sborník prací k poctě 60. narozenin Františka Weyra [Sammelband der Arbeiten zu Ehren des 60. Geburtstags Franz Weyrs] (1939), S. 11. 46","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten 4. Auch die hervorragende Tätigkeit bei der Ausarbeitung einer neuen Verfassung ist beiden Gelehrten gemeinsam. Die Mitwirkung Kelsens an der österreichischen Verfassung ist wohl- bekannt und wurde oft hoch bewertet. Kelsen wurde im Jahre 1919 28 von Staatskanzler Dr. Karl Renner zur Ausarbeitung einer Verfassung der neu gegründeten Republik Österreich herangezogen. Kelsen wird als „Vater der österreichischen Bundesverfassung von 1920“ bezeichnet. Aber auch Weyrs Teilnahme an den Arbeiten an der tschechoslowaki- schen Verfassung 1920 (nach dem ersten Weltkrieg), in Zusammenarbeit besonders mit den anderen ausgezeichneten Experten Dr. Jiří Hötzel, Professor der Karlsuniversität in Prag, Dr. Alfréd Meissner, später Justizmi- nister, und dem damaligen Innenminister Antonín Švehla, war ungemein wertvoll. Die tschechoslowakische Verfassung von 1920 war ein wirkliches Meisterwerk. Es ist auch bemerkenswert, dass mehr als ein Vierteljahrhundert später fast dieselben Männer zusammen mit anderen, von der verfas- sunggebenden Nationalversammlung ernannten Experten (z. B. mit dem ersten Präsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Ivan Dérer) im Jahre 1947 an der neuen Verfassung der wiedererstandenen Tschechoslowaki- schen Republik arbeiteten. III Kelsen und Weyr in gegenseitiger Sicht und Würdigung 1. Fast in allen seinen Schriften und Abhandlungen würdigt Weyr Kelsen ganz besonders und ehrt ihn als den wahren Begründer der Normativen Rechtstheorie (der Reinen Rechtslehre), auch wenn er in einer ganzen 28 Z. B. Hans Kelsen zum Gedenken (mit den Beiträgen von Bruno Kreisky, Herta Firnberg, Rudolf Aladár Métall, Walter Antoniolli, Robert Walter, Christian Broda, Hans Klecatsky, Norbert Leser, Herbert Schambec, Ernst Topitsch, Alfred Verdross) (1974); Ermacora: Österreichs Bundesverfassung und Hans Kelsen. In: Merkl-Verdross-Marcic-Walter (Hg.): Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (1971); Ermacora: Die Grundrechte in der Verfassung 1919/20. In: Die österreichische Verfassung von 1918 bis 1938 (1980), S. 53 ff.; Schmitz: Die Vorentwürfe Hans Kelsens für die österreichische Bundesverfassung (1981). 47","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Reihe von Punkten zu anderen Ergebnissen gelangt. Wie schon angedeu- tet, wurden Weyrs Frühstudien zum Ausgangspunkt für die Normative Rechtstheorie, die später in der ganzen Welt so erfolgreich war. Zur Zeit ihrer Entstehung war sie aber in der Tschechoslowakei vollkommen unbe- kannt und Weyr wäre mit seinen Ansichten in der tschechischen juristischen Welt schwerlich durchgedrungen, wenn er nicht unerwartet eine mächtige Stütze durch das Auftreten Kelsens erhalten hätte, der im Jahre 1911 in seiner Schrift Hauptprobleme der Staatsrechtlehre zu demselben Resultat gelangte, aber – wie Weyr in seinen „Memoiren“ ausdrücklich feststellt, „zu einem unverhältnismäßig eingehenderen und systematischer durchgearbeiteten“. In seinen „Memoiren“ schreibt Weyr dar- über ungemein fesselnd: „Es war eine umfangreiche Schrift von einigen Hundert Seiten, die ich im wahrsten Sinne des Wortes verschlang. Ich bin nicht imstande die Freude zu beschreiben, die ich fühlte, als ich erkannte, dass der Autor (dem allerdings meine Abhandlung ‚Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems‘ aus dem Jahr 1908 entgangen war) mit denselben Argumenten wie ich die grundlegende Theorie der traditionellen Rechtslehre vom Unterschied zwischen dem Privatrechte und dem öffentlichen Rechte verwarf, und dass er auch in anderen Richtungen mit meinen Ansichten über das noetische Wesen und die Methode der Rechtswissenschaft, z. B. was ihr Verhältnis zur Soziologie anbelangt, übereinstimmt. In den ‚Hauptproblemen‘ war ohne Zweifel eine große Reihe von neuen Erkenntnissen enthalten, wie überhaupt das Thema der Kelsen- schen Schrift unverhältnismäßig breiter war als das Thema meiner ‚Beiträge‘. Aber mit Genugtuung spürte ich, dass hier ein meinem eigenen Intellekt ver- wandter Geist zu mir spricht. Es war eine Verwandtschaft analog der, die ich zwischen mir und meinem Kollegen Engliš feststellte. Sie beruht auf einer bestimmten rationalen Art des Denkens, die man auch als mathematische oder allgemein deduktive bezeichnen kann und mit der auch eine größere Vorliebe für allgemeine wissenschaftliche Probleme zusammenhängt, die näher zur Philoso- phie stehen. Die Rechtswissenschaft vor dreißig bis vierzig Jahren war aber offensichtlich aphilosophisch und war auf diese Aversion geradezu eingebildet. Es imponierten ihr die Naturwissenschaft, die Deskription und die Geschichte, und ihre Probleme waren daher konkret. Kelsen und Engliš sind offenbar 48","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten ahistorische wissenschaftliche Phänomene, was allerdings keinesfalls bedeutet, dass sie Feinde jeglicher Geschichtsforschung wären, sondern nur soviel, dass sie das Zusammensuchen konkreter (ob historischer oder anderer) Daten und die Induktion überhaupt viel weniger interessieren, als die durch die deduktive Methode gewonnenen allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es war natürlich, dass ich nach dem Durchlesen der Hauptprobleme dringlich wünschte, ihren Autor persönlich kennenzulernen, von dem ich inzwischen erfahren hatte, dass er in Wien lebte und sich mit seiner Schrift an der dortigen Universität für Staatsrecht habilitiert hatte. Es habilitierte ihn der geistreiche Bernatzik, den ich hier schon in anderem Zusammenhang erwähnt habe. Die Begegnung mit Dr. Kelsen hat mir dort mein Freund Dr. Perels vermittelt. Ich traf Kelsen im Gebäude der Wiener Universität und ich erinnere mich sehr deutlich an diese erste persönliche Begegnung mit ihm. Sie hatte zur Folge, dass neben gegenseiti- ger wissenschaftlicher Sympathie zwischen uns auch eine persönliche Sympathie entstand, die sich im Laufe der Zeit zu einer aufrichtigen und intimen Freund- schaft entwickelte. Auf meine weitere wissenschaftliche Entwicklung hatte der um zwei Jahre jüngere Kelsen einen ungemein großen Einfluss, aber auch ich spielte, wie ich annehme, in seinem späteren Leben eine ziemlich wichtige Rolle. Ich bezweifle z. B., ob er in der Zeit, da unter den Deutschen die Judenverfolgung begann, ohne meine Hilfe als Professor an die Prager Deutsche Universität gekommen wäre. Kelsen war verheiratet und führte in jener Zeit eine sehr gast- freundlichen Haushalt. Gleich nach unserer Bekanntschaft an der Wiener Fakultät hat er mich und meine Frau zu sich eingeladen, wo ich seine Gattin und seine zwei damals noch sehr kleinen Töchter kennenlernte. Er war von Geburt Jude und auch seine Gattin war Jüdin. Er hatte eine kleine filigrane Gestalt, ein regelmäßiges Antlitz, dunkles Haar und einen Schnurrbart und ein unglaublich lebhaftes Temperament, welches sich schon in seinen Augen und in seinem Blick äußerte. Er war ein Mann, den die Natur – abgesehen allerdings von seinen geringen Maßen – nicht nur mit Vorteilen des Geistes, sondern auch des Körpers ausgestattet hatte. Er erzählte mir einmal, dass er angeblich aus dem spanischen Zweig des jüdischen Volkes (den sog. ‚Spaniolen‘) stamme, der sich in seinem Aus- sehen von anderen Volkeszweigen zu seinem Vorteil unterscheidet und leider gegenüber diesen in einer entscheidenden Minderheit ist. Kelsen war gebürtiger Prager, aber schon in früher Jugend übersiedelte er nach Wien. Sein Vater war 49","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Geschäftsmann und einer seiner Brüder war katholischer Mönch, während Hans Kelsen Matrikenprotestant war. Seine Mutter konnte angeblich gut tschechisch und oft, wie mir ihr Sohn erzählte, sprach sie noch im Alter aus dem Schlaf tsche- chisch. Kelsen selbst verstand tschechisch überhaupt nicht. Unsere Freude über die persönliche Bekanntschaft war, denke ich, gegenseitig und unsere wissen- schaftlichen Debatten waren nie zu Ende. Kelsen war ein Mann, der das geschriebene Wort ebenso meisterhaft wie das gesprochene Wort beherrschte; es war ein Vergnügen, seine Sprache zu hören, die immer mit neuen und überra- schenden Gedanken erfüllt und mit ungewöhnlichem Witz und Geistreichtum gewürzt war. Ihr Fluss war unglaublich schnell und erinnerte mich lebhaft an Engliš´s Art zu sprechen. Wer mit diesen beiden ins Gespräch kam, war auf die passive Rolle des Zuhörers angewiesen, wenn er nicht ständig ins Wort fallen wollte. Dies geschah mir selbst unzählige Male. Ich erinnere mich, wie diese bei- den Debattier-Solisten einmal bei mir in Brünn aneinander gerieten und wie ihre mehrstündige Debatte, die einige meiner zu diesem Konzert eingeladene Schüler mit Staunen verfolgten, nur die Notwendigkeit, sich zum Zug auf den Bahnhof zu begeben, beendet hat. Engliš war in diesem Zweikampf übrigens etwas im Nachteil, weil dieses Duell in deutscher Sprache stattfand. Wie bei so vielen Leuten, die durch ein bestimmtes spezifisches Talent außerordentlich hervorragen, oft auffallend einseitig zu sein pflegen, so war auch der Inhalt von Kelsens Interesse ziemlich beschränkt. Er hatte keinen Sinn für Kunst und entbehrte gleichfalls jeglichen Interesses für Geschichte. Bei einem seiner Besuche in Brünn schlug ich ihm zum Beispiel vor, ihn zu dem Völkerschlachtdenkmal bei Austerlitz zu führen, aber mein Gast gab ganz offen zu, dass ihn ähnliche histo- rische Denkmäler nicht interessieren, und wir bleiben daher zu Hause bei unseren Debatten. Auch in der Rechtswissenschaft war sein Interesse grundsätzlich auf die allgemeinen noetischen und methodologischen Probleme begrenzt, denen seine ‚Hauptprobleme‘ und die Mehrzahl seiner späteren Schriften gewidmet sind. Der konkrete Inhalt der einzelnen Rechtsordnungen, d. i. der Inhalt ihrer Normen, interessierte ihn nur in zweiter Linie und auch in dieser Hinsicht ähnelte er mir und Kollegen Engliš. Sonst aber war er voll Energie und Unterneh- mungslust und beschränkte sich nicht auf bloße Lehrtätigkeit. Er gründete bald eine Zeitschrift (Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht) und 50","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten übernahm später die Edition der bekannten, von den Professoren Bernatzik und Philippovich gegründeten ‚Wiener staatswissenschaftlichen Studien‘, damit er ein literarisches Forum für die Normative Theorie (die er später ‚Reine Rechts- lehre‘ umbenannte) zur Verfügung habe. Er sah augenscheinlich vorher, dass seine Lehre auf heftigen Widerstand in den Reihen der Verfechter der traditio- nellen Rechtstheorie stoßen und daher ein solches Forum höchst notwendig sein werde. Und so war es wirklich. In praktischen Organisationsfragen ebenso wie in der Fähigkeit, durch das gesprochene Wort der neuen Lehre Anhänger zu gewinnen, und in der glücklichen Hand (und allerdings auch großem Glück) bei der Wahl literarisch produktiver Schüler bewies er, dass er kein bloßer großer ‚Macher‘ im Bereich der Theorie, sondern auch in der Praxis war. Das über- raschte gewiss viele Leute, die der Ansicht waren, dass große Theoretiker im praktischen Leben notwendigerweise ungeschickt sein müssen. Vielleicht wird mancher Leser meinen, dass ich in diesen meinen Erinnerungen, die doch nicht nur für Juristen oder vielleicht auch nur für jene unter ihnen, die selbst wis- senschaftlich arbeiten oder gearbeitet haben und daher eine gewisse Übersicht über die bedeutenden Autoren ihres Bereiches haben, bestimmt sind, zu viel Raum dem Mann widme, der vielleicht ein ausgezeichneter Schriftsteller war, aber letzten Endes doch nur ein Professor wie eine Menge anderer Hochschulleh- rer, die nicht den Anspruch erheben können, Interesse bei einem breiteren Leserpublikum zu erwecken. Einen solchen Leser muss ich zu meiner Entschuldi- gung daran erinnern, dass es sich um einen wirklich ganz ausgenommen hervorragenden und in der Geschichte der Wissenschaft vereinzelten Fall han- delt, und verweise ihn, sollte er sich für die Sache näher interessieren, darauf, was ich darüber in meinem Buch ‚Theorie des Rechts‘ (1936) im Kapitel ‚Die Ent- stehung und die bisherige Entwicklung der Normativen Theorie‘ (S. 331-380) geschrieben habe. Hier möchte ich dazu nur soviel sagen, dass Kelsens wichtigste Schriften, obwohl sie vollkommen theoretisch und infolgedessen nach der Mei- nung der Mehrheit aus dem Lager der sogenannten Praktiker für die Rechtspraxis unbrauchbar sind, eine zweite Auflage erlebt haben, was, wie mir jeder Kenner bestätigen wird, eine Rarität ist, und ein großer Teil von ihnen wurde – bis zum Jahre 1936 – in eine Reihe fremder Sprachen (Tschechisch, Französisch, Eng- lisch, Spanisch, Chinesisch, Japanisch, Italienisch, Polnisch, Serbisch, Griechisch, 51","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Bulgarisch und Ungarisch) übersetzt. Dass eine Theorie, die in so vielen verschie- denen nationalen Literaturen Interesse erweckt hatte, durch ihren Ausgangspunkt und Inhalt eigentlich ein bloßer Irrtum, wenn nicht geradezu ein Unsinn wäre, wie die ersten tschechischen Kritiker meiner Arbeit und die ersten deutschen Kri- tiker der Kelsenschen ‚Hauptprobleme‘ behaupteten, wird selbst dem reinen Laien, der nichts Näheres über sie weiß, wohl etwas unwahrscheinlich erschei- nen. Es wäre für ihn wahrscheinlich auch auffallend, dass die Harvard-Universität dem Erfinder einer solchen Theorie als dem einzigen Juristen ein Ehrendoktorat verlieh, eine Universität, für die, wie bekannt, die von ihr verliehenen Ehrendok- torate keine heißen Semmeln bedeuten. Heutzutage kann man allerdings behaupten, dass die Normative Theorie ihren Kampf grundsätzlich schon gewon- nen hat, und dass sich an ihr ausgezeichnet die Richtigkeit jener Schopenhauerschen Erkenntnis bewiesen hat, die in dem Schicksal jeder wissen- schaftlichen Entdeckung, die durch ihre Neuheit und Einfachheit überrascht, drei Phasen unterscheidet: Zuerst erklären sie die Kritiker (die sie selbst nicht gemacht haben und denen sie schon deshalb wenig sympathisch ist) als bloßen Unsinn, dann folgt die zweite Phase, in der sie, soweit wie möglich, ignoriert und übersehen wird, und zum Schluss, d. i. in der dritten Phase, zeigt es sich, dass an ihr eigentlich nichts Neues ist, was diese Kritiker nicht schon längst selbst behauptet hätten! Die Normative Theorie geht bei ihren ursprünglichen Gegnern langsam schon von dem zweiten in das dritte Stadium über. Dabei fallen aller- dings nicht zufällige äußere Ereignisse ins Gewicht – wie z. B. verschiedene vorübergehende politische Regime, wie das nazistische, und deren Gunst oder Ungunst – die diese oder jene Periode (in der Regel die Phase des Ignorierens) zwar etwas verlängern oder verkürzen können, aber ansonsten sub specie aeter- nitatis vollkommen bedeutungslose und illusorische Erscheinungen bleiben. Wenn ich für den Leser, der durch seinen Beruf weder Gelehrter noch Jurist ist und bisher überhaupt nichts über die Normative Theorie gewusst hat, kurz und populär Kelsen charakterisieren sollte, würde ich sagen, dass er ein Professor war, dem in einem einzigen Tag mehr einfiel als einem seiner durchschnittlichen Kollegen etwa in dreißig Jahren. Trotz der Angriffe und manchmal auch klägli- cher Missverständnisse, denen seine Lehre zuerst begegneten und die sie übrigens teilweise bis zum heutigen Tag begleiten, erzielte Kelsen verhältnismäßig große 52","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten Erfolge. Er verdankte sie nicht nur seinem Talent, sondern auch seiner ganz ungewöhnlichen Zähigkeit, mit der er sein Ziel verfolgte. Diese Zähigkeit trat z. B. besonders bemerkenswert bei seinem Eifer zu Tage, mit dem er – wenn not- wendig – das nachholen konnte, was ihm an Fremdsprachenkenntnissen fehlte. Nach meinem eigenen Urteil waren diese Kenntnisse nicht seine stärkste Seite und er selbst betrachtete sich in dieser Hinsicht nicht als besonders talentiert. Und daher war es notwendig, durch Fleiß den Mangel an angeborenen Fähigkei- ten zu ersetzen. Und dies geschah auch, als er z. B. einmal zu Vorträgen nach London eingeladen war (ich weiß nicht, ob sie die dortige Universität veranstal- tete, oder ob sie nur in ihren Räumen stattfanden) und sich die Notwendigkeit zeigte, schnell die Kenntnis der englischen Sprache zu vervollkommnen. Vor sei- ner Abreise nach England hatte er, wie er mir erzählte, nicht weniger als acht Stunden täglich bei seinem Englischlehrer verbracht! – Kelsens Lebensschicksal war viel bewegter als es bei durchschnittlichen Professoren üblich ist. Er reiste viel, zwar nicht zu seinem Vergnügen und aus Reiselust, sondern um zahlreichen Einladungen aus dem Ausland Folge zu leisten und Vorträge zu halten. Diese Vor- träge hatte er immer sehr sorgfältig vorbereitet und konnte sie so virtuos lesen, dass der Hörer den Eindruck eines freien Gespräches hatte. Als Vortragender trat er auch einige Male in Brünn auf (einmal an der Fakultät, wo unser Studenten- bund ‚Právník‘ [‚Jurist‘] seinen Vortrag veranstaltete), in Prag und in Preßburg. Seine größte Reise war nach Amerika, um dort sein Ehrendoktorat entgegenzu- nehmen. Auch den Bereich seiner Lehrtätigkeit hat er einige Male verändert. Er erreichte an der Wiener Universität die außerordentliche und dann die ordent- liche Professur für Verfassungsrecht; aber er blieb nicht ständig an dieser Hochschule, aus der er hervorgegangen war. Als nämlich in der Österreichischen Republik, für die er nach dem Umsturz des Jahres 1918 eine sehr demokratische Verfassung ausgearbeitet hatte, die klerikalen Parteien die Oberhand zu gewin- nen begannen, ging er an die Universität Köln. … Die von ihm ausgearbeitete Verfassung war ein sehr gelungenes Werk und blieb bis zur definitiven Änderung des österreichischen politischen Lebens in Geltung. Auch sein Aufenthalt in Köln dauerte nicht lange, weil infolge der revolutionären Ereignisse ihm, wie allen Hochschullehrern jüdischen Ursprungs, die Tätigkeit an deutschen Hochschulen unmöglich gemacht wurde. In Köln seine Möbel hinterlassend, übersiedelte 53","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) er in Eile nach Genf, wo er die Professur an der dortigen Hochschule, aber nur als Gastprofessor, annahm. Dort war er gezwungen, die Vorlesungen und die Semi- nare (besonders aus Völkerrecht) in französischer Sprache zu halten, was ihm, wie er mir gestand, nicht geringe Schwierigkeiten bereitete. In Genf verweilte er einige Jahre, bis es zu seiner Berufung an die Prager Deutsche Universität für Völkerrecht kam. Seine Berufung nach Prag vollzog sich nicht ohne bedeutende Schwierigkeiten von Seiten der deutschen politischen Gegner ab; ich kann hier bezeugen, dass sich unsere Regierung geradezu ängstlich bemühte, allen Unan- nehmlichkeiten von dieser Seite auszuweichen und seine definitive Bestellung daher möglichst hinaus zögerte. Dass es schließlich doch dazu kam, dazu habe ich einigermaßen beigetragen und bin nicht wenig stolz darauf. Der Antrag der Fakultät auf seine Ernennung kam im Professorenkollegium mit geringer Mehrheit durch und das damalige Benehmen der großen Minderheit befestigte in mir das Misstrauen zu dem, was man ‚Hochschulautonomie‘ nennt. Diese erfordert nämlich, wenn sie wirklich wohltuend wirken soll, ganz andere Leute als jene, die oft in die Professorenkollegien kommen, Leute, die zwischen Wissen- schaft und vulgärer Politik zu unterscheiden wissen und genügend Anstand in sich haben, dass sie nicht einmal unter dem Schutz der geheimen Wahl durch Stimmzettel die Interessen jener zu Gunsten dieser schamlos verraten. Und es geschah damals, was in ähnlichen Situationen oft geschieht: der größte Wider- sacher Kelsens im Professorenkollegium war sein ehemaliger Schüler, für den ich mich früher selbst auf Kelsens Ersuchen hin eingesetzt hatte, als es um seine Ernennung zum Professor an der Prager Technischen Hochschule ging, von wo er später an die Universität übertrat, Prof. Fritz Sander. Ihm gelang es zwar nicht, die Ernennung seines ehemaligen Lehrers auf den Lehrstuhl für Völkerrecht (den er nach dem Ableben von Prof. Rauchberger selbst supplierte) zu verhindern, aber dafür gelang es dann sehr bald den stärkeren Politikern, Kel- sens definitiv aus seiner Stellung zu verjagen. Kelsen hatte damals, als alles bei uns einzustürzen begann, Urlaub, der ihm von unserem Ministerium für Schul- wesen vorschriftmäßig erteilt worden war und den er in Genf verbrachte, wo er Gastvorlesungen an der dortigen Hochschule hielt. Dort ereilte ihn, als er schon einige Zeit sein Gehalt aus Prag nicht mehr bekommen hatte, die Mittei- lung des Ministeriums (das vorher mit ihm darüber gar nicht verhandelt hatte), 54","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten dass es ihn nicht mehr als Professor der Prager Deutschen Universität betrachte. Ein unfreundliches Schicksal machte es Prof. Sander unmöglich, sich lange dieses Ereignisses zu erfreuen. Trotz eifrigen Bemühens, mit dem er dem neuen Regime diente, kam man nämlich darauf, dass er seinen Stammbaum nicht in Ordnung habe, und es wurde ihm zur Kenntnis gebracht, dass ihn nicht einmal sein eifri- ges Streben retten würde. Er starb darauf plötzlich im Alter von fünfzig Jahren. Ich kannte ihn persönlich und habe immer seine außerordentliche wissenschaft- liche Begabung anerkannt. Seinem Lehrer Kelsen, aus dessen Schule er hervorgegangen war, konnte er allerdings in keiner Hinsicht gleichkommen; in dem Bemühen, das zu überwinden, fiel er daher später von der Normativen Theorie ab und erfand eine eigene Theorie, die er in ellenlangen Abhandlungen und jeweils mehrere hundert Seiten langen Schriften vertrat. Nur wenige Leser verstanden seine verflochtenen und erdrückend weitschweifigen Ausführungen, in denen es neben Angriffen gegen die Normative Theorie von neuen, vom Autor erfundenen Begriffen wimmelte; deshalb schloss sich ihm niemand an, aber es hat ihn auch niemand zu widerlegen versucht. Es scheint, dass ich es richtig vorhergesagt habe, als ich seinerzeit in einer umfangreichen Kritik seiner Theo- rie erklärte, dass dieser Autor niemals eine wissenschaftliche Schule begründen wird, denn bald nach seinem Tode sind seine umfangreichen Schriften vollkom- men in Vergessenheit geraten und niemand nimmt sie in der deutschen juristischen Literatur zur Kenntnis. Etwas ähnliches zu dem, was Kelsen mit Sander passierte, geschah auch mir im tschechischen Fachschrifttum; es erschie- nen Autoren, die glaubten, dass das, was einer kann, auch der andere kann, und sie schrieben daher Bücher, in denen sie entweder überhaupt die Normative Theorie bekämpften oder sie wenigstens bona fide verschiedentlich zu korrigie- ren suchten“. Zur Vervollständigung des persönlichen Porträts von Weyr und in gewissem Maße auch von Kelsen ist es angebracht anzuführen, was Weyr über die Tatsache schreibt, dass Kelsen Jude war: „Wie so mancher hervorragender Jude war auch Kelsen aus innerer Überzeugung selbst ein ent- schiedener Antisemit, etwa ähnlich dem genialen Wiener Philosophen Otto Weininger, den ich hier schon erwähnt habe. Er fühlte sein Judentum als eine schwere Last, der man sich womöglich entledigen muss, und er war daher auf 55","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) sein Volk, also darauf, was es in der Wissenschaft, in der Kunst, in der Wirtschaft und in der Politik trotz seiner verhältnismäßig geringen Zahl geleistet hatte, kei- neswegs stolz. Nur im Scherz wies er einmal darauf hin, als wir gerade von dem berühmten Physiker Albert Einstein sprachen, der, wie bekannt, auch Jude war, dass in jener Zeit zufälligerweise die Weltmeister in zwei voneinander so ent- fernten Fachbereichen wie Schach und Boxen Angehörige des jüdischen Volkes waren. Die zionistische Bewegung betrachtete er offensichtlich als Unsinn, und sie war ihm widerwärtig. Ich hatte oft den Eindruck, dass er seine ganze Stellung und seinen gesamten wissenschaftlichen Ruhm ohne Bedenken geopfert hätte, wenn er sich durch dieses Opfer, von seinem jüdischen Ursprung hätte befreien können. Niemals werde ich vergessen, wie wir einmal in Genf waren, und allein auf der Hotelterrasse gegenübersaßen, und er mich traurig ansah und plötzlich sagte: ‚Du bist ein großer Blonder und Angehöriger der nordischen Rasse – und ich bloß ein armer Jud‘. Dieses ätzende Gefühl der Minderwertigkeit konnte ich bei Angehörigen eines so außerordentlich begabten Volkes nicht begreifen, das so viel erzielt hatte. Und am wenigsten bei einem so hervorragenden Geist wie Kelsen. Darin liegt, wie ich meine, der eigentliche Kern der jüdischen Tragik“. 2. Kelsens Würdigung der großen und klaren Persönlichkeit Weyrs erscheint an verschiedenen Stellen seines großen Werkes. Am besten aber ist sie aus der Vorrede Kelsens zum zweiten Band der zum 60. Geburts- 29 tag Weyrs am 25. April 1939 herausgegebenen Festschrift eisichtlich. Ich glaube, dass es richtig ist, noch einmal die programmatisch aufschlussrei- chen, stilistisch vollendeten und menschlich tief ergreifenden Worte Hans Kelsens, die für seine wissenschaftliche Überzeugung und menschliche 30 Größe gleichermaßen bezeichnend sind, wörtlich anzuführen: „Zu Dei- nem sechzigsten Geburtstag haben sich neben den Freunden und Verehrern, die Du im engeren Vaterlande hast, auch im Auslande eine Anzahl von Gelehrten 29 Sammlung von Arbeiten zu Ehren des 60. Geburtstages von Franz Weyr, 2 Bd. (1939); vgl. dazu die schönen Worte sowie die Erklärung von R. A. Métall in Hans Kelsen zum Gedenken (1974), S. 21 ff. Das Unikat des zweiten Bandes der Festschrift befindet sich aber jetzt nicht mehr in meinen Händen, sondern – wie es richtig ist – in der Bibliothek des Hans Kelsen-Instituts. 30 Métall: Hans Kelsen und seine Wiener Schule der Reinen Rechtslehre. In: Hans Kelsen zum Gedenken (1974), S. 22. 56","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten zusammengefunden, die durch ihre Mitarbeit an dieser Festschrift Dir zum Ausdruck bringen wollen, welch hohes Ansehen Dein Name im Bereich der inter- nationalen Wissenschaft genießt. Wenn ich als ihr Wortführer auftreten darf, um in ihrem Namen Dir die herz- lichsten Glückwünsche zu entbieten, so darum, weil ich unter ihnen Dein ältester Freund bin und weil mich mit Dir nicht nur wissenschaftliche, sondern auch per- sönliche Bande verknüpfen. Bewegten Herzens ergreife ich diese Gelegenheit, um Dir in aller Öffentlichkeit zu sagen, was im privaten Verkehr auszusprechen die hier begreifliche Scheu vor großen Worten verhindert. Als ich vor mehr als fünfundzwanzig Jahren das Glück hatte, Dir zu begeg- nen, hatte ich sogleich das Gefühl: voilà un homme! Und obgleich die alles erschütternden Ereignisse, die seither die Welt und unser beider Leben bewegt haben, wahrhaftig darnach angetan waren, den Charakter eines Menschen auf die Probe zu stellen, hat sich während all dieser Jahre meine Freundschaft für Dich, begründet auf der dankbaren Hochschätzung Deines wissenschaftlichen nicht minder als Deines menschlichen Werkes, stetig vertieft. Dass zwischen die- sen beiden Werten aber ein Wesenszusammenhang besteht, diese – vielleicht wichtigste – Erfahrung meines Lebens, danke ich Dir. Ganz am Beginn Deiner wissenschaftlichen Laufbahn hast Du eine Entdeckung gemacht – wenn man auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft von Entdeckungen sprechen kann – eine Erkenntnis jedenfalls, die mir von größter symptomatischer Bedeutung zu sein scheint. Nicht etwa, dass es Deine verdienstvollste wissen- schaftliche Leistung ist. Du hast später noch viele bedeutendere Beiträge zum Fortschritt des juristischen Denkens geliefert, und über Deinem so reichen und vielseitigen Lebenswerk könnte man sogar diesen Erstling Deines Genies überse- hen, ohne der Würdigung Deines Gesamt-Ceuvres wesentlichen Abbruch zu tun. Er ist nur darum so bedeutungsvoll, weil er besser als alles andere Neue, das Dir die Rechtswissenschaft verdankt, jenen inneren Zusammenhang zeigt, der zwi- schen der wissenschaftlichen Leistung eines Menschen und seinem Charakter besteht. Du hast als erster mit einer althergebrachten Anschauung aufgeräumt, die sozusagen zu dem eisernen Bestand der Rechtswissenschaft gehörte: der Lehre von dem absoluten Gegensatz zwischen öffentlichem und privatem Recht. Es ist 57","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) hier nicht am Platze und ist überhaupt nicht mehr nötig, Deine Argumentation zu rekapitulieren; sie ist in die Geschichte unserer Wissenschaft eingegangen. Was ich hervorheben möchte, ist nur das entscheidende Motiv, das Dich zu die- sem Problem allererst hingeführt hat. Und das war, dass Du die Unaufrichtigkeit herausgefühlt hast, die sich hinter der traditionellen Theorie von dem Dualis- mus zwischen öffentlichem und privatem Recht verbarg, der ganz anderen als den von der Theorie vorgegebenen wissenschaftlichen, nämlich politischen Bedürfnissen zu dienen, bestimmt ist. Es war Dir – wie ich in allen Deinen wis- senschaftlichen Arbeiten – nicht nur eine logische Aufgabe, nicht nur eine Sache des Verstandes, sondern eine wahre Herzens-Sache, weil eine Frage der intel- lektuellen Redlichkeit, auszusprechen, was ist; und dies auf die Gefahr hin, mit all jenen Mächten in Konflikt zu geraten, die an der Aufrechterhaltung des wis- senschaftlichen Scheins interessiert sind. Wenn irgendjemand, so bist Du es, der durch sein Lebenswerk bewiesen hat, dass wissenschaftliche Wahrheit nicht erreicht werden kann ohne die persönliche Redlichkeit und den persönli- chen Mut des Forschers. Diese beiden sittlichen Eigenschaften sind es, die Dich zu dem gemacht haben, was man einen Positivisten nennt, und was nichts ande- res bedeutet als: die Wirklichkeit so sehen wollen, wie sie ist und wie man sie sehen muss, wenn man sie wissenschaftlich begreifen will. Dein Charakter ist es, der sich immer wieder gegen die nebulosen Illusionen des konservativen eben- sowie des revolutionären Naturrechts treibt und Dir so von rechts wie von links Feindschaft zuzieht. Weil Deine Dir im tiefsten Wesen wurzelnde Wahrhaf- tigkeit Dich im positiven Recht nur relativ wertvolle und darum wandelbare Formen erkennen lässt, wo andere, von ihren politischen Wünschen verführt, ewige, absolute Inhalte zu sehen glauben, nennt man Dich einen Formalisten. Aber das ist der Vorwurf, den zu allen Zeiten die Politik gegen die Wissenschaft erhoben hat, und den diese mit Stolz zu ertragen weiß, so lange sie sich nicht zur Magd jener erniedrigen will. Zeitgemäß freilich ist dies Ideal einer von der Politik unabhängigen Wis- senschaft nicht. Und doch ist es das einzige, das den Bestand der Wissenschaft gewährleisten kann. Die Geschichte des menschlichen Geistes beweist es. Darum ist es nicht nur im Namen Deiner wissenschaftlichen Freunde im Ausland, es ist im Namen der Wissenschaft, die uns heilig ist, dass ich den Wunsch ausspreche: Du redlicher 58","B: Zur allgemeinen menschlichen Charakteristik beider Persönlichkeiten und tapferer Kämpfer für die Freiheit und Unabhängigkeit der Erkenntnis bleibe uns noch viele, viele Jahren erhalten, damit uns das Bewusstsein, Dich als Mitstreiter zu haben, den Mut nicht sinken lässt in dem ewigen Kampf um die Wahrheit“. 59","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) C DAS WERK I Die transzendentale (kritische) Philosophie Kants als behauptete philosophische Grundlage der Schule der Reinen Rechtslehre 1. Die Frage der philosophischen Grundlage einer Wissenschaft (Theorie) ist keinesfalls bedeutungslos, ja sie ist für jede wissenschaftliche (theoreti- sche) Disziplin grundlegend. Das kann man z. B. klar an der theoretischen Disziplin der sog. Normenlogik demonstrieren. Wie man weiß, herrscht zwischen den scheinbar „exakten“ Wissenschaftlern dieser Disziplin ein heftiger Streit, ob die Norm ein Urteil oder bloß ein Willensausdruck ist. Und trotzdem ist die Sache klar und der ganze Streit wäre überflüssig, wenn die Vertreter verschiedener Meinungen etwas mehr über die wahren philosophischen Grundlagen, die in der modernen kritischen Ontologie bestehen müssen, wüssten. 31 Es ist unmöglich, die Grundlagen jeder Wissenschaft, und daher auch der Rechtswissenschaften, einschließlich der philosophischen Rechts- wissenschaft (der Rechtsphilosophie) und auch jedes Phänomens, z. B. des Phänomens des Rechts, zu begreifen, wenn man nicht durch das reinigende Feuer der (allgemeinen) Philosophie hindurchgegangen ist. Dasselbe gilt, wenn man die Reine Rechtslehre (oder Normative Theo- rie) untersucht. 2. Meistens behauptet man, dass die philosophische Grundlage der Schule der Reinen Rechtslehre (Wiener und Brünner Herkunft) die transzenden- 32 tale (kritische) Philosophie des großen „Alleszermalmers“ Immanuel Kants ist. 31 Kubeš: Die Logik im rechtlichen Gebiet, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. 27 (1977), S. 283 ff. 32 Kants Zeitgenosse Mendelssohn hat ihn so genannt, um die große kopernikanische Tat Kants aufzuzeigen; vgl. Cassirer: Kants Leben und Lehre. In: Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. XI (1923), S. 233. 60","C: Das Werk Weniger weiß man leider, was die transzendentale Philosophie über- haupt ist und was ihre grundlegenden Bausteine sind. Hier interessiert die zweite, kritische, Periode des Wirkens von Kant, sowie diese Philosophie in seinen grundlegenden Arbeiten Kritik der reinen Vernunft (1. Ausg. 1781; 2. Ausg. 1787), Prolegomena zu einer jeden künftigen 33 Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (1783), Grundlegung 34 36 zur Metaphysik der Sitten (1785), Kritik der praktischen Vernunft (1788), 35 Kritik der Urteilskraft (1790), Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen 37 Vernunft (1. Ausg. 1793; 2. Ausg. 1794), Metaphysik der Sitten I: Metaphy- 38 sische Anfangsgründe der Rechtslehre (1797) und Metaphysik der Sitten II: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (1797) in Erscheinung tritt. 39 Schon jetzt muss gesagt werden, dass das ganze kritische Werk Kants ein einheitliches Ganzes bildet, auch wenn und obwohl der Neukantianismus Marburger Prägung Kant vorwarf, dass Kant in seiner praktischen Philo- 40 sophie die kritische oder transzendentale Methode verlassen habe. 3. Der erste grundlegende Baustein, die wahre „kopernikanische“ Wen- dung, die revolutionäre Tat im Hinblick auf die traditionelle Philosophie, ist die Lehre von der Spontaneität der Vernunft. Kant sagt im Kapitel Tran- szendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in der ersten Auflage der Kritik der Reinen Vernunft folgendes: „Und hier ist es denn notwendig, 41 sich darüber verständlich zu machen, was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellung meint. Wir haben oben gesagt, dass Erscheinun- gen selbst nichts als sinnliche Vorstellungen sind, die an sich in ebenderselben Art nicht als Gegenstände (außer der Vorstellungskraft) müssen angesehen werden. 33 Es wird zitiert nach der Ausgabe von Ernst Cassirer: Immanuel Kants Werke, Bd. III (1913). 34 Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. IV (1922). 35 Cassirer (Hg.): l. c., Bd. IV (1922). 36 Cassirer (Hg.): l. c., Bd. V (1922). 37 Cassirer (Hg.): l. c., Bd. V (1922). 38 Cassirer (Hg.): l. c., Bd. VI (1923). 39 Cassirer (Hg.): l. c., Bd. VII (1923). 40 Cohen: Kants Begründung der Ethik, 2. Aufl. (1910), S. 169 ff., 183 ff.; vgl. Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht (1926), S. 1 ff. 41 Kant: Kritik der reinen Vernunft (1787), S. 615 ff. 61","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondie- renden, mithin auch davon unterschiedenen Gegenstande redet? Es ist leicht einzusehen, dass dieser Gegenstand nur als etwas überhaupt = X müsse gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir die- ser Erkenntnis als korrespondierend gegenübersetzen konnten. Wir finden aber, dass unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angese- hen wird, was dawider ist, dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt seien, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendigerweise in Beziehung auf diesen untereinander übereinstimmen, d. h. diejenige Einheit haben müs- sen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht. Es ist aber klar, dass, da wir es nur mit dem Mannigfaltigen unserer Vorstellung zu tun haben und jenes X, was ihnen korrespondiert (der Gegenstand), weil er etwas von allen unse- ren Vorstellungen Unterschiedenes sein soll, vor uns nichts ist, die Einheit, welche der Gegenstand notwendig macht, nichts anders sein könne, als die formale Ein- heit des Bewusstseins in der Synthesis des Mannigfaltigen der Vorstellungen. Alsdenn sagen wir: wir erkennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannig- faltigen der Anschauung synthetische Einheit bewirkt haben. Diese ist aber unmöglich, wenn die Anschauung nicht durch eine solche Funktion der Synthe- sis nach einer Regel hat hervorgebracht werden können, welche die Reproduktion des Mannigfaltigen a priori notwendig und einen Begriff, in welchem dieses sich vereinigt, möglich macht. So denken wir uns einen Triangel als Gegenstand, indem wir uns der Zusammensetzung von drei geraden Linien nach einer Regel bewusst sind, nach welcher eine solche Anschauung jederzeit dargestellt werden kann. Diese Einheit der Regel bestimmt nun alles Mannigfaltige und schränkt es auf Bedingungen ein, welche die Einheit der Apperzeption möglich machen; und der Begriff dieser Einheit ist die Vorstellung vom Gegenstande – X, den ich durch die gedachten Prädikate eines Triangels denke“. Und weiter: „Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen 42 des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität 42 Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., in: Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. III (1913), S. 79. 62","C: Das Werk der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegen- stand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe) durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstel- lung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht“. Diese Spontaneität der Vernunft bildet den tiefsten Kern der transzen- dentalen Philosophie. Dadurch ist jene „Revolution der Art des Denkens“, 43 die berühmte „Kopernikanische Tat“, gegeben, von der Kant im Vorwort zur 2. Aufl. der Kritik der Reinen Vernunft spricht. 44 Weder besteht die epochale Bedeutung Kants etwa in der Tatsache, dass Kant das Problem der Erkenntnis als die Kritik der reinen spekula- tiven Vernunft und nicht als ein psychogenetisches Problem auffasste, noch vielleicht in dem Umstand, dass er die Notwendigkeit erkannte, vor der Untersuchung des Gegenstandes das Erkennen selbst zu unter- suchen; dann wäre Kant nur der Denker, der die Lehre Descartes‘ oder Lockes zu Ende führte. Das ganz Neue, was aus Kant den Begründer einer 45 neuen (transzendentalen oder kritischen) Philosophie machte, besteht 46 in der Überprüfung des Seins in den Begriff der transzendentalen Logik. Kant hat den uralten Dualismus zwischen Gegenstandes und Wahrheit, den Dualismus des „Seins“ und der „Erkenntnis“, die Gegenständlichkeit außerhalb der „Vernunft“ weggeschafft und als erster die transzendentale Logik des gesamten Seins begründet. Jene Kopernikanische Tat führt uns aber noch weiter. Während die bis- herige Ontologie im Wesen nur eine Art der Gegenständlichkeit kennt, nur die materiellen oder immateriellen Substanzen, die in irgendeiner Form „da sind“, existieren für das System der Vernunft noch weitere rein immanente Notwendigkeiten, sind objektive Geltungsansprüche gege- ben, die man als solche überhaupt nicht mehr in der Form dieses „Daseins“ beschreiben kann, sondern die einem ganz anderen und neuen Typus 47 angehören. Hier denkt man an jene Notwendigkeit, die sich im ethischen 43 Windelband-Heimsoeth: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1935), S. 456. 44 Kant: l. c., S. 18. 45 Lask: Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre, Gesammelte Schriften, Bd. 2 (1911), S. 28. 46 Lask: l. c., S. 28. 47 Lask: l. c., S. 28 ff. 63","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) oder ästhetischen Urteil manifestiert; auch das „Reich der Zwecke“, des- sen Bild die Ethik entwirft, auch das Reich der reinen Gebilde und Formen, welches sich in der Kunst ergibt, „ist“ in irgendeinem Sinn, da es eine feste, von der individualen Willkür unabhängige Dauer hat; diese Dauer aber, dieses Dasein gleicht weder der empirischen, räumlichzeitlichen Existenz der Dinge noch ist es mit ihr irgendwie vergleichbar, weil es auf 48 ganz anderen Entstehungsprinzipien beruht. Aus dieser grundsätzlichen Verschiedenheit des Prinzips ergibt sich, dass die Welt des Sollens und die Welt der künstlerischen Form für Kant eine andere Welt sein muss als 49 die Welt des Daseins. Und daher ist es die Verschiedenheit, die in der Ver- nunft selbst besteht, d. h. in ihrer grundlegenden Fragestellung, die uns zur Verschiedenheit der Gegenstände führt. 50 Der Gegenstand der Erkenntnis steht im Sinne der transzendentalen Philosophie nicht am Beginn des ganzen Erkenntnisprozesses, son- dern bedeutet seine Endphase. Erst am Ende der Erkenntnis steht hier der Gegenstand. 4. Der zweite grundlegende Baustein ist die Kants Lehre vom „Ding an sich“. Eben diese Lehre ist es, die den „gesunden Kern“ der ganzen Phi- losophie Kants verbürgt. Sonst kommt man zu solchen Feststellungen, dass z. B. die Rechtsordnung, das Recht, ein bloßes alogisches Material ist und dass erst die Rechtswissenschaft aus diesem alogischen Material ihre Rechtssätze, ihre Urteile, bildet. 51 Mit allergrößter Schärfe muss man hervorheben, was Kant selbst in sei- ner Vorrede zur 2. Auflage seiner ersten Kritik mit großem Nachdruck 52 und auch Spott gegen den „Idealismus“ feststellte: „Der Idealismus mag in Ansehung der wesentlichen Zwecke der Metaphysik für noch so unschuldig 48 Cassirer: Kants Leben und Lehre (1921), S. 160 f. 49 Cassirer: l. c., S. 161. 50 Kant: Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 423; Cassirer: l. c., S. 161; Kubeš: Kritische Philosophie Kants, S. 17 ff. (noch nicht veröffentlicht). 51 Kelsen: Rechtswissenschaft und Recht (1922), S. 92; derselbe: Norm und Logik, Forum (1965), S. 421 ff., 495 ff., Neues Forum, 1967, S. 39 ff.; Neues Forum, 1968, S. 333 ff.; vgl. Kubeš: Die Logik im rechtlichen Gebiet, öZöR, Jg. 27 (1976), S. 273 ff. 52 Kant: l. c., S. 30 ff., Anm. 1. 64","C: Das Werk gehalten werden (was er in der Tat nicht ist), so bleibt es immer ein Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein der Dinge außer uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unsern inneren Sinn her haben), bloß auf Glauben annehmen zu müssen, und wenn es jemand einfällt es zu bezweifeln, ihm keinen genugtuenden Beweis entgegen- stellen zu können. Weil sich in den Ausdrücken des Beweises von der dritten Zeile bis zur sechsten einige Dunkelheit findet, so bitte ich diese Periode so umzuän- dern: ‚Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein. Denn alle Bestimmungsgründe meines Daseins, die in mir angetroffen werden können, sind Vorstellungen und bedürfen als solche selbst ein von ihnen unterschiedens Beharrliches, worauf in Beziehung der Wechsel derselben, mithin mein Dasein in der Zeit, darin sie wechseln, bestimmt werden können‘. Man wird gegen die- sen Beweis vermutlich sagen: ich bin mir doch nur dessen, was in mir ist, d. i. meiner Vorstellung äußerer Dinge, unmittelbar bewusst; folglich bleibe es immer noch unausgemacht, ob etwas ihr Korrespondierendes außer mir sei, oder nicht. Allein ich bin mir meines Daseins in der Zeit (folglich auch der Bestimmbar- keit desselben in dieser), durch innere Erfahrung bewusst, und dieses ist mehr, als bloß mich meiner Vorstellung bewusst zu sein, doch aber einerlei mit dem empirischen Bewusstsein meines Daseins, welches nur durch Beziehung auf etwas, was mit meiner Existenz verbunden, außer mir ist, bestimmbar ist. Die- ses Bewusstsein meines Daseins in der Zeit ist also mit dem Bewusstsein eines Verhältnisses zu etwas außer mir identisch verbunden, und es ist also Erfahrung und nicht Erdichtung, Sinn und nicht Einbildungskraft, welches das Äußere mit meinem inneren Sinn unzertrennlich verknüpft; denn der äußere Sinn ist schon an sich Beziehung der Anschauung auf etwas Wirkliches außer mir, und die Rea- lität desselben zum Unterschiede von der Einbildung beruht nur darauf, dass er mit der inneren Erfahrung selbst, als die Bedingung der Möglichkeit, dersel- ben unzertrennlich verbunden werde, welches hier geschieht“. Ich finde daher die Streichung dieses zweiten zentralen Begriffs (des Dings an sich), die sich bei einigen Nachfolgern Kants vorfindet (siehe 65","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 53 54 z. B. schon bei Salomon Maimon oder bei Johann Gottlieb Fichte ), unrichtig. Die absolute Negation des Dinges an sich findet man dann besonders bei den Neukantianern der Marburger Richtung. 55 5. Die transzendentale Philosophie (und auf ihrer Grundlage die Reine Rechtslehre) führt die sog. kritische Analyse durch; sie beginnt mit der Untersuchung des Inhalts des Bewusstseins und findet in ihm die for- malen Elemente, die Erkenntnisse a priori, d. h. unabhängig von aller Erfahrung, und solche Elemente (oder Erkenntnisse), „die ihre Quelle 56 a posteriori, nämlich in der Erfahrung haben“. Kant fand in der Betrachtung der Vernunft allgemeine und über alle Erfahrung hinausreichende Urteile, deren Geltung weder von dem Nachweis ihres tatsächlichen Bewusstwer- dens abhängig gemacht noch durch irgendeine Form des Eingeborenseins 57 begründet werden kann. Solche Urteile gilt es im ganzen Tätigkeitsbe- reich der menschlichen Vernunft festzustellen, um aus ihrem Inhalte selbst und ihren Beziehungen zu dem durch die bestimmten System des Vernunftlebens ihre Berechtigung oder die Grenzen ihres Anspruchs zu verstehen. Die Frage nach diesen apriorischen Elementen der umzuän- dern, nach diesen Prinzipien der Vernunft, deren Geltung ganz unabhängig davon ist, ob und wie sie sich im empirischen Bewusstsein realisieren, kleidet Kant in eine etwas komplizierte Form: „Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?“ 58 6. Wie in der Kritik der reinen Vernunft forscht Kant auch in der Kritik der praktischen Vernunft nach Prinzipien, die aus der Vernunft unabhän- gig von der Erfahrung abgeleitet werden können. Wenn die Grundfrage der ersten Kritik lautet: Welche sind die apriorischen Prinzipien, auf denen unsere Erkenntnis beruht, und wenn er sie in den Anschauungsfor- men des Raumes und der Zeit, in den Kategorien und in den Grundsätzen 53 Maimon: Versuch einer Transzendentalphilosophie (1790), S. 419 ff. 54 Fichte: Die beiden Einleitungen in die Wissenschaftslehre (1797) (W. I, S. 419 ff.). 55 Siehe das nächste Kapitel dieser Arbeit. 56 Kant: l. c., in: Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. II, S. 14. 57 Dazu Windelband-Heimsoeth: l. c., S. 447. 58 Kant: l. c., in: Cassirer (Hg.), l. c., Bd. III, S. 45. 66","C: Das Werk der reinen Vernunft findet, so ist die Grundfrage der zweiten Kritik: Wel- che sind die apriorischen Prinzipien für unser Handeln – und diese fasst 59 er in dem kategorischen Imperativ zusammen. Die dritte Kritik (Kritik der Urteilskraft) soll – mit ihrer Teleologie – ein Vermittlungsglied zwi- schen den ersten zwei Kritiken sein, ein Verbindungsglied zwischen dem theoretischen und dem praktischen Teil der Philosophie. Das Ziel, das alle drei Kritiken verfolgen, ist die Analyse der synthe- tischen Urteile, die den Anspruch auf Notwendigkeit und allgemeine Geltung erheben. 7. Kelsen, Weyr und die ganze Schule der Reinen Rechtslehre wollen die transzendentale Philosophie Kants in der Richtung weiterentwik- keln, dass sie die noetischen und logischen Grundlagen der normativen Wissenschaften untersuchen und dabei von der Voraussetzung ausge- hen, dass Kant diese Arbeit nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften durchgeführt hat. Auch die Reine Rechtslehre geht vom Faktum der Rechts- wissenschaft aus und untersucht die Bedingungen der Möglichkeit dieser Wissenschaft. 8. In diesem Zusammenhang muss man noch etwas über die kritische Ethik und Rechtsphilosophie anführen. Kants kritische Ethik ist teils in einer kleineren Arbeit Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, die vielleicht die wertvollste Arbeit Kants dar- 60 stellt, enthalten, teils in der zweiten Kritik, in der Kritik der praktischen Vernunft. 61 In seiner Kritik der reinen Vernunft hat Kant gezeigt, dass die Objek- tivität der Erkenntnis nicht durch das Material der Sinne garantiert ist, sondern dass dieses Material zuerst in den Anschauungsformen 59 Deussen: Neuere Philosophie von Descartes bis Schopenhauer, Allg. Geschichte der Philosophie II, 3., 2. Aufl. (1921), S. 250 f. 60 Die erste Auflage aus dem Jahr 1785, die zweite Auflage aus dem Jahr 1786; hier ziti- ere ich nach der zweiten Auflage, die im Bd. IV. Ernst Cassirers Immanuel Kants Werke, S. 240-324 abgedruckt ist. 61 Aus dem Jahr 1788; siehe Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. V, S. 1-176; Cassirer: Kants Leben und Lehre. In: Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. XI, S. 247. 67","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) und in den Kategorien bearbeitet werden muss und dass erst diese For- men uns den eigentlichen „Gegenstand“, die eigentliche „Erfahrung“, d. h. die objektiven, allgemeingültigen wissenschaftlichen Erkenntnisse zu schaffen helfen. Von derselben Erwägung geht Kant auch bei seinem ethischen Problem aus. Auch hier ist es notwendig, etwas zu finden, was unser Handeln, unser Wollen gleichrichtet, etwas was die Objektivität garantiert. Ebenso wie wir von der Erkenntnis als solcher erst dann spre- chen können, wenn wir in den Formen der Anschauung und der Vernunft eine feste Regel gefunden haben, die keinesfalls von dem ständig sich ver- ändernden Material herstammt, sondern durch die Analyse der Vernunft gewonnen wird, können wir auch bei dem ethischen Problem nicht vom Material, d. i. vom Inhalt und vor der sachlichen Verschiedenheit dessen, was gewollt ist, ausgehen. Erst durch die Analyse des praktischen, morali- schen Bewusstseins kommt Kant zu seiner ethischen Regel. Die „Affektion“ selbst, die bloße „Rezeptivität der Eindrücke“ genügt nicht, sondern es muss die „Funktion“ und „Spontaneität“ der Vernunftbegriffe hinzutre- 62 ten. Auch im ethischen Bereich ist es nicht der „Stoff“, sondern die Form, die uns die Einheit und die allgemeine Geltung garantiert. Die Form für den Bereich der Ethik bildet der kategorische Imperativ. Zuerst muss man aber den zentralen Begriff der kritischen Ethik Kants, nämlich den Begriff der Autonomie kennenlernen. Die Autonomie bedeutet jene Gebundenheit der theoretischen und auch der praktischen Vernunft, in der die Vernunft sich als etwas, was selbst gebunden ist, bewusst ist; der Wille unterliegt hier bei der Autonomie – im Unterschied zur Heteronomie – keiner ande- 63 ren Regel, als der, welche sie sich selbst als allgemeine Norm gegeben hat. Die Autonomie ist die Grundlage der Sittlichkeit und in ihr manifestiert sich die Freiheit des Menschen als eines vernünftigen Wesens. Das Prin- zip der Autonomie des Willens bedeutet, dass der Mensch, der durch seine Pflicht an das Gesetz, das ihn moralisch zu etwas zwingt, gebunden ist, 62 Cassirer: Kants Leben und Lehre. In: Cassirer: Immanuel Kants Werke, Bd. XI, S. 259. 63 Cassirer: l. c., S. 259. 68","C: Das Werk dabei nur seiner eigenen und doch allgemeinen Gesetzgebung unterliegt und nur durch seinen eigenen, aber trotzdem allgemeinen Gesetzgebungs- willen gebunden ist. 64 Der Ausdruck der Autonomie der praktischen Vernunft ist der kategori- sche Imperativ. Zwischen der Freiheit und dem moralischen Gesetz ist ein interessantes Verhältnis: Die Freiheit ist der Seinsgrund des moralischen 65 Gesetzes, das moralische Gesetz ist der Erkenntnisgrund der Freiheit. 66 Kant drückt das folgendermaßen aus: „Die Freiheit ist allerdings die ratio essendi des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognos- cendi der Freiheit. Denn wäre nicht das moralische Gesetz in unserer Vernunft eher deutlich gedacht, so würden wir uns niemals berechtigt halten, so etwas als Freiheit ist (ob diese gleich sich nicht widerspricht), anzunehmen. Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein“. Diese besondere Verbindung der Freiheit mit dem kategorischen Impera- tiv, dass nämlich unsere Freiheit auf dem Bewusstsein der Pflicht beruht, drückt die bekannte Formel Schillers im Geiste Kants sehr plastisch aus: „Du kannst, denn du sollst“. Die kantische Formel des kategorischen Impe- 67 rativs lautet: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Was verbindet daher die theoretische Philosophie mit der prakti- schen Philosophie bei Kant? Es ist der Gedanke der Gesetzmäßigkeit, der im Bewusstsein des Subjekts begründet ist, weil, ebenso wie die theore- tische Vernunft der Wirklichkeit ihre Gesetze vorschreibt und sie dadurch zur Natur macht, die praktische Vernunft dem Willen ihre Gesetze vor- schreibt und sie dadurch zur Natur macht, und so die Sittlichkeit gründet 68 und begründet. Ebenso wie es ein Problem der theoretischen Vernunft war, die allgemeine Geltung und den allgemeinen Wert der Erkenntnis 64 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, l. c., S. 291; Eisler: Kants-Lexikon, S. 54. 65 Vgl. Voegelin: Das Sollen im System Kants. In: Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht. Kelsens Festschrift (1931), S. 153. 66 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, l. c., S. 4, Anm. 1. 67 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, l. c., S. 279; weitere Formulationen des katego- rischen Imperativs: l. c., S. 279, 287, 289; Siehe auch Kant: Kritik der praktischen Vernunft, l. c., S. 35. 68 Dazu Binder: Philosophie des Rechts (1925), S. 51 ff. 69","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) zu beweisen, geht es in der praktischen Philosophie um die Begründung der Geltung unseres Wollens. Der Gedanke der allgemeinen Geltung und Notwendigkeit beherrscht die theoretische und auch die praktische Phi- losophie. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestimmte Himmel über mir und das moralische Gesetz 69 in mir“. Der bestimmte Himmel ist ein Symbol der Notwendigkeit der Naturgesetze, das moralische Gesetz erscheint als Ausdruck der mora- 70 lischen Notwendigkeit. Kant kommt zu seinem bekannten Primat der praktischen Vernunft, und zwar nicht nur deswegen, weil die prakti- sche Vernunft imstande ist, uns das zu geben, was die theoretische Vernunft nicht mehr geben kann, sondern auch aus dem Grund, dass die theoreti- sche Vernunft in jenen Ideen des Unbedingten, d. i. in den Ideen der Seele, der Welt und in der Idee Gottes, durch die Erfordernisse der praktischen 71 Vernunft bestimmt wird. Die Lehre vom Primat der praktischen Vernunft bedeutet daher, dass die Welt der theoretischen Vernunft, die empirische Welt, in der die kausale Notwendigkeit herrscht, selbst als letztlich auf der Freiheit begründet und auch durch die Freiheit gefordert angesehen wird. 72 Nach Kant müssen wir zwischen der „Kausalität des Seins“ und der „Kausalität des Sollens“ unterscheiden. Die Kausalität des Sollens, auf der der Gedanke der Freiheit beruht, beschränkt sich nicht auf das Wirk- liche, sondern zielt auf das Unwirkliche, ja auch auf das empirisch Unmögliche hin. Der reine Inhalt und die reine Geltung des kategorischen 73 Imperativs bestehen auch dann, wenn uns die Empirie keinen einzigen Beweis gibt, dass das wirkliche Subjekt irgendwann nach dem kategori- schen Imperativ handelte. Daraus, was ist, kann ich niemals urteilen, dass 69 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, S. 174. 70 Binder: l. c., S. 53. 71 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, l. c., S. 130 ff.; Windelband-Heimsoeth: l. c., S. 466. 72 Binder: l. c., S. 32. 73 Dazu Cassirer: Kants Leben und Lehre, l. c., S. 270. 70","C: Das Werk es sein soll. „… es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich tun soll, von demjenigen herzunehmen oder dadurch einschränken zu wollen, was getan wird“. 74 Durch den Gedanken der Freiheit, deren objektive Realität sich uns im moralischen Gesetz „gleichsam durch ein Faktum“ ausdrückt, ist 75 der Welt der Erscheinungen gegenüber die Sphäre „an sich“ bezeichnet und bestimmt: Jedoch nicht in der Anschauung und im Denken, sondern nur im Tun können wir uns ihr nähern, nicht in der Form des „Dinges“, sondern nur in der Form des Ziels und der Aufgabe ist sie für uns erfassbar. Durch die ganze Philosophie Kants zieht sich die typische Unter- scheidung von zwei Welten, wie ein roter Faden, der Welt der Erfahrung, der Welt der Sinne, der Welt der Erscheinungen einerseits und der über- sinnlichen Welt, der Welt der Dinge an sich, der Welt des Sollens, wo die Freiheit herrscht, anderseits. Die Welt der Kausalität und die Welt der Freiheit! Aber auch in der Welt der Freiheit herrschen keine Willkür und kein Chaos, sondern dieses Reich hat seine eigene Notwendigkeit, 76 nämlich die Vernunftnotwendigkeit der Freiheit. Kant selbst, wenn auch ungenau, spricht – wie eben gezeigt wurde – von einer besonderen Art 77 der Kausalität. Jener Platonische Dualismus der Welt des Seins und der Welt des Sol- lens ist vom Standpunkt des Menschen typisch. Der Mensch gehört beiden Welten an. Er gehört zur Welt des Seins, zur Welt der Natur, zur Welt der kausalen Notwendigkeit und ist ein Bestandteil dieser Welt; hier erscheint er als homo phaenomenon. Als Bestandteil der Welt des Sollens, 78 der Welt der Freiheit erscheint er als ein Wesen, das sich selbst Gesetze gibt und sich auf diese Weise frei entscheidet; er erscheint als homo noumenon. 79 Kant geht also überall von dem Gedanken Platons von zwei Welten aus. Wäre es aber nicht besser, anstatt von zwei Welten von zwei Arten des Denkens zu sprechen? Bei näherer Untersuchung findet man aber, 80 74 Kant: Kritik der reinen Vernunft, l. c., S. 259. 75 Kant: Kritik der praktischen Vernunft, l. c., S. 50; Cassirer: l. c., S. 273. 76 Binder: l. c., S. 33. 77 Cassirer: Kants Leben und Lehre, l. c., S. 266. 78 Kant: Metaphysik der Sitten. In: Cassirer (Hg.): Immanuel Kants Werke, Bd. VII, S. 246. 79 Kant: l. c., S. 246. 80 Cassirer: Kants Leben und Lehre, l. c., S. 75 ff. 71","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) dass die Verdichtung der Idee des Sollens bei Kant in die „Welt“ des Sol- lens einen tiefen noetischen Grund hat, der sogar bis zu den Wurzeln der transzendentalen Philosophie Kants reicht. „Der Gegenstand“ ist uns nämlich nur in dem Urteil gegeben. Überall dort, wo uns die kritische Ana- lyse eine spezifisch eigene Art des Urteils entdeckt, ordnet sie dieser Form des Urteils auch eine besondere Form des „Gegenstandes“ zu. Der Mensch ist bei Kant zwar ein sinnliches Wesen, zugleich aber besitzt er einen noumenalen, intelligiblen Kern. Die Sinnlichkeit ist etwas Äußerliches, Minderwertiges, und wenn der Mensch vollkommen sein will, muss er sich nur durch das moralische Gesetz, durch die Vernunft, leiten lassen. Der noumenale Kern ist bei Kant zwar von jeglicher Sinn- lichkeit frei; dadurch soll aber keinesfalls die natürliche Sphäre negiert, sondern nur sorgfältig von der noumenalen Sphäre abgetrennt werden. Die Vorstellung der sinnlichen Ziele soll nicht Triebkraft der Handlung sein, doch die Sinnlichkeit ist durchaus real, und gerade aus der Möglich- keit des Abfalls des Menschen von seinem wahren Sein in die Sinnlichkeit entsteht der Gedanke des Sollens. Bei Kant begegnen wir letztlich folgende Dreiteilung: Die niedrigste Sphäre ist die Sphäre der Sinnlichkeit, die höchste ist jene noumenale, intelligible Spitze, die frei von Zeit, Sinnlichkeit und jedweder Materie ist, ein bloßer Punkt, aus dem aber doch das moralische Gesetz strömt. Zwischen diesen beiden Sphären findet sich aber noch die dritte Sphäre, ein gewisses Zwischenreich, das ein Janusgesicht hat: Von unten, von der Sphäre der Sinnlichkeit beobachtet, ist diese Sphäre vernünftig, von oben, von der Sphäre jenes reinen Punktes, der mit der reinen Ver- nunft im Sinne des moralischen Gesetzes identisch ist, ist sie empirisch. Dieses Zwischenreich ist der Ort aller Probleme Kants. Hier spielt sich das ab, was sich Kant unter Geschichte vorstellt; hier tritt das morali- sche Gesetz mit dem Charakter der Nötigung auf und ist durch die Formel des Imperativs, des Sollens, ausgedrückt. Wenn wir uns in diesem Zwi- schenreich befinden, sind wir uns bewusst, was Pflicht bedeutet. 81 81 Voegelin: l. c., S. 145 ff. 72","C: Das Werk Zusammenfassend kann man von Kants Verhältnis zur Frage des Sol- len folgendes sagen: Wenn wir von einer Handlung sagen, dass sie sein soll, meinen wir damit, dass wir ein gewisses Erlebnis der Nötigung haben, in dem von Seiten das eigenen Ich der betreffenden Handlung der Charak- 82 ter des Sollens zugeteilt wird. Die moderne Philosophie, besonders jene, 83 die zur Lehre Max Schelers neigt, so z. B. Voegelin, stellt fest, dass wir wirklich Erlebnisse der von Kant beschriebenen Art haben, in denen wir uns als handelnde Menschen des Einverständnisses oder des Nichteinver- ständnisses mit etwas in uns, das uns die betreffende Handlung zu tun oder zu unterlassen befiehlt, bewusst sind. Und wir sind geneigt, dieses Etwas als Ich selbst zu bezeichnen, weil es sich uns in der Spontaneität des Han- delns darbietet: in dem Erlebnis der moralischen Nötigung; wir sehen uns verlassen von den äußeren Bestimmungsgründen, und unser Handeln ist ursprünglich, spontan, von unserem Ich als eine pflichtgemäße Handlung 84 bestimmt. Und so sehen wir, dass schon bei Kant die eigentliche Bedeu- tung des Sollens in dem Charakter besteht, den eine bestimmte Handlung dadurch erhält, dass wir sie unabhängig von der Nötigung unseres eigen Ichs festsetzen. Neben diesem eigentlichen ursprünglichen Sollen, das typisch im kategorischen Imperativ ausgedrückt ist, findet man bei Kant ein Sollen in den Handlungen nach der Art der hypothetischen Impe- 85 86 rative. Diesen Typus des Sollens bezeichnet Voegelin als ein derivatives Sollen. 9. Das Recht ist bei Kant letztlich im Gedanken der transzendentalen Freiheit verankert. Auf diesen Umstand hat besonders Bruno Bauch auf- 87 merksam gemacht und hat gezeigt, dass man das Recht im Sinne Kants als das Recht auf die Erfüllung der Pflicht interpretieren muss; es ist 82 Voegelin: l. c., S. 169. 83 Voegelin: l. c., S. 169-173. 84 Voegelin: l. c., S. 169 ff. 85 Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, l. c., S. 270 ff. 86 Voegelin: l. c., S. 172. 87 Bauch: Immanuel Kant (1917), S. 355; derselbe: Das Rechtsproblem in der Kantschen Philosophie, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Jg. III, 1920, S. 1 ff., besonders S. 13 ff.; Haensel: Kants Lehre vom Widerstandsrecht (1926), S. 9. 73","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) notwendig, statt der Frage nach der „Freiheit von etwas“ die Frage nach der „Freiheit zu etwas“ zu stellen, und auf diese Frage lautet die Antwort: frei für objektive Zwecke. Kant beweist, dass das Recht ein Erfordernis der praktischen Vernunft ist und in ihr das Prinzip hat, das a priori gilt. Das Recht muss aus der allgemeinen vernünftigen Bestimmung des Menschen 88 begriffen werden. Diese Bestimmung ist die Bestimmung zur Freiheit. „Das Recht ist also der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Frei- 89 heit zusammenvereinigt werden kann“. Kant deduziert das Recht mit Hilfe des kategorischen ethischen Imperativs aus dem Grundgesetz der Freiheit. Dieses Grundgesetz der Freiheit steht über der Moral und über dem Recht. Es ist allerdings klar, dass Kant nicht das Recht im Sinne der positiven Gesetze im Auge hat, sondern dass es um die Idee des Rechts, die entschei- den soll, ob das, was die positiven Gesetze anordnen, gerecht, richtig ist, geht; diese Idee soll daher die Grundlage für eine richtige, gerechte Gesetz- gebung sein. 90 Das allgemeine Rechtsgesetz lautet: „Handle äußerlich so, dass der freie 91 Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemei- nen Gesetze zusammen bestehen könne“. Ich habe hier absichtlich versucht, wenigstens den Kern der transzen- dentalen Philosophie Kants zu zeigen; in weiteren Kapiteln möchte ich darlegen, dass sich sowohl Kelsen als auch Weyr von dieser synthetischen Grundauffassung des ganzen Systems der Philosophie Kants grundsätz- lich abgewendet haben. 88 Windelband-Heimsoeth: l. c., S. 469. 89 Kant: Die Metaphysik der Sitten, l. c., S. 31. 90 Kant: l. c., S. 31 ff. 91 Kant: l. c., S. 32. 74","C: Das Werk II Die spezielle philosophische Fundierung bei Kelsen 1. Wie auch Weyr hervorhebt, ist in Kelsens grundlegendem Werk 92 Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatz (1. Aufl. 1911; 2. Aufl. 1923, die um ein umfangreiches Vorwort bereichert ist), zum ersten Mal die ganze Normative Theorie (später Reine Rechts- lehre genannt) enthalten, „und zwar in der Form, in welcher sie damals der Autor vertrat“. Gleichzeitig stellt Weyr fest, dass der Autor der Hauptprobleme mit 93 seiner ganzen Veranlagung und Denkart als Kantianer erscheint, sich aber trotzdem nicht offiziell und ausdrücklich zur transzendentalen (kri- tischen) Philosophie Kants bekennt. Über die Hauptprobleme sagt Weyr im Vorwort seiner Theorie des Rechts, dass das Werk „vornehmlich metho- dologischen Charakter“ hat. Sein Ausgangspunkt ist zwar der Kantsche 94 Gegensatz zwischen Sein und Sollen, aber in der Form, die ihm Simmel 95 96 und Wundt gegeben haben. Kelsen geht – wie Weyr richtig betont – gewissermaßen in medias res: der zentrale Begriff des juristischen Denkens ist für ihn der Rechtssatz. Dieser Rechtssatz wird ausschließlicher Gegen- stand des juristischen Erkennens. Der Rechtssatz ist ein Ausdruck der Zurechnung, die so eine typisch normative Beziehung wird – ähnlich wie die Beziehung zwischen der Ursache und der Folge eine typische kau- sale (naturwissenschaftliche) Beziehung ist. Das Verhältnis des Begriffs des Rechtssatzes zum Begriff der Norm (sc. der Rechtsnorm) ist aber in den „Hauptproblemen“ nicht klar und eindeutig erklärt. 97 Erst eine im Jahre 1912 in den Kantstudien erschienene Bespre- chung der Kelsenschen „Hauptprobleme“ von Ewald, in der dieses Werk als ein Versuch anerkannt wurde, die transzendentale Methode auf 92 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 332 ff. 93 Weyr: l. c., S. 332. 94 Simmel: Einleitung in die Moralwissenschaft (1892). 95 Wundt: Ethik (1903). 96 Weyr: l. c., S. 333. 97 Weyr: l. c., S. 333. 75","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) die Rechtswissenschaft anzuwenden, hat den Autor Kelsen, wie er selbst 98 feststellt, auf weitgehende Parallelen aufmerksam gemacht, die zwi- schen seinem Begriffe des juristischen Willens und den ihm bis dahin nicht bekannten Auffassungen Cohen´s bestanden. „Nunmehr ergab sich mir als bewusste Konsequenz der erkenntnistheoretischen Grundeinstel- lung Cohens, der zufolge die Erkenntnisrichtung den Erkenntnisgegenstand bestimmt, der Erkenntnisgegenstand aus einem Ursprung logisch erzeugt wird, dass der Staat, sofern er Gegenstand juristischer Erkenntnis ist, nur Recht sein kann, weil juristisch erkennen oder rechtlich begreifen nichts anderes bedeutet, 99 als etwas als Recht begreifen“. Im Vorwort zur 2. Auflage der „Hauptpro- bleme“ weist Kelsen ausdrücklich auf die transzendentale Philosophie Kants als den Ausgangsunkt der normativen Noetik hin und begründet seine Konstruktion des Rechtssatzes als objektives hypothetisches Urteil und nicht als subjektiven Imperativ: 100 „Worauf es den Hauptproblemen offenbar ankommt, ist: die Objektivität der Geltung zu gewinnen, mit der allein wie Gesetzlichkeit überhaupt, so auch Rechtsgesetzlichkeit auftreten kann. Ohne Rechtssetzung aber keine Rechtserkenntnis, keine Rechtswissenschaft“. 101 Daher kann man erst seit dem Jahr 1912 sagen, dass die philosophi- sche Grundlage bei Kelsen die transzendentale Philosophie Kants ist, die aber durch die Brille des Führers der Marburger Richtung des Neukan- tianismus, Hermann Cohen gesehen, interpretiert und sehr wesentlich „korrigiert“ wurde. 2. Man muss daher etwas näher zur Cohenschen Auffassung der tran- szendentalen Philosophie Kants Stellung nehmen. 102 Für den Neukantianismus der Marburger Prägung, übrigens ebenso wie für den Neukantianismus der süddeutschen (Badische, Heidel- berger) Richtung, ist vor allem die scharf antimetaphysische Tendenz 98 Kelsen: Vorwort zur 2. Auflage der Hauptprobleme, S. XVII. 99 Kelsen: l. c., S. VII.; Weyr: l. c., S. 344 ff. 100 Kelsen: l. c., S. VII. 101 Kelsen: l. c., S. VII. 102 Z. B. vgl. Kubeš: Právní filozofie 20. století (kantismus, hegelianismus, fenomenologie a teorie myšlen- kového řádu) [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts – Kantianismus, Hegelianismus, Phänomenologie und die Theorie der Gedankenordnung] (1947), S. 39-44. 76","C: Das Werk charakteristisch. Die Lehre Kants wird besonders durch die Marbur- ger Richtung konsequent antimetaphysisch interpretiert. Mit Kant teilt die Marburger Richtung die grundlegende Haltung zur Aufgabe der Philo- sophie: die Erkenntnis der Welt ist den Spezialwissenschaften überlassen, deren Aufgabe allerdings in der Praxis niemals beendet wird, da sie gerade die unbegrenzte Welt der Objekte, die uns ständig vor die Lösung neuer und neuer Fragen stellt, zum Gegenstand haben. Es existiert keine metaphysisch philosophische Erkenntnis der Welt außerhalb des Rah- mens der einzelnen Wissenschaften. Die Philosophie hat zur Aufgabe, die Grenzen der erkennbaren Gegenständlichkeit zu bestimmen, bzw. den Rahmen, innerhalb dessen sich die Erkenntnis bewegt, zu skizzieren und so die „apriorischen“, d. i. von der Erfahrung unabhängigen, Bestandteile der Erkenntnis der Wirklichkeit zu erarbeiten. Ein weiterer charakteristischer Zug des Marburger Neukantianis- mus ist sein Antipsychologismus. Diesen Zug hat die neukantianische süddeutsche Richtung übrigens wieder mit einer ursprünglich ganz entge- gengesetzten Schule, nämlich der Phänomenologie Husserls, gemeinsam. Auch hier knüpft der Marburger Neukantianismus an die Kantsche Lehre, dass seine Kritik nicht psychologisch interpretiert werden darf an. Der Antipsychologismus bedeutet das Bemühen um die unbedingte Apriorität der logischen Gesetze, den Widerstand gegen jeden Versuch, die Logik auf die Psychologie oder die zeitlos geltenden logischen Gesetze auf die psy- chologischen Wirklichkeitsgesetze zurückzuführen. Die psychologischen Gesetze, die aus der Erfahrung gewonnen wurden, sind in ihrer Geltung auf bloße Wahrscheinlichkeit begrenzt, da sie im Wege der Induktion gewonnen wurden. Demgegenüber gelten die logischen Gesetze bedin- gungslos und unbegrenzt. Statt der Metaphysik des Seins, die nach dem Erfassen des absoluten Wesens des gesamten Seins strebt, erscheint beim Marburger Neukan- 103 tianismus die Sphäre der bedingungslosen Geltung. In diesem Reich der logischen Geltung ist auch das Reich des Seins verankert, denn erst durch das Urteil entsteht für uns die Welt des Seins, erst im Urteil 103 Z. B. Aster: l. c., S. 12-30. 77","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) konstituiert sich der „Gegenstand“ als etwas Festes, was man von neuem in jener unendlichen Veränderlichkeit der Erscheinungen und der Emp- findungen erkennen kann. Erst dieser „Denkakt“ bildet die Welt des Seins, oder – nach Natorp, dem zweiten Führer der Marburger Rich- tung – alle „Wirklichkeit“ ist ein Gedankeninhalt. Und so wie die Welt im Objekt identisch ist, so entsteht auch ein identisches Subjekt „Ich“, das in der Vielzahl der Empfindungen und Erscheinungen beständig und unveränderlich bleibt und als eine Einheit den subjektiven Gegensatz zur Einheit der Objekte bildet. Das Subjekt und das Prädikat bilden den Gegenstand. Jede logische Einheit ist zugleich eine bestimmte sachliche Verbindung. Die Marburger Schule bekämpft scharf die aristotelisch-scholastische 104 Theorie der Wahrheit, nach der die Wahrheit die Übereinstimmung des Denkens mit dem Sein ist, wo also das „Sein“ das Maß der Wahrheit des Denkens ist, wo in der Erkenntnis und im Denken die Abbildung der äußeren Wirklichkeit („Abbildtheorie“) erblickt wird, wo man also von der Priorität des Begriffs des Seins gegenüber dem Begriff der Wahr- heit ausgeht. Im Sinne des Neukantianismus ist die Wahrheit kein abgeleiteter Begriff und das Sein kein Grundbegriff, sondern geradezu 105 das Gegenteil. Das gegenständliche Sein, die Wirklichkeit, wird hier als die Sphäre der Wahrheit vorgestellt, weil die Wirklichkeit ein Inbegriff dessen ist, was sich in den Wahren, d. i. den Normen der Logik entspre- chenden, Existentialurteilen konstituiert. Die Wahrheit der Gedanken ist das Maß dessen, was ist. Das Erkennen ist kein Abbilden, sondern zu gewissem Sinne eine Synthese. Dieser kantisch-neukantianische Begriff der Erkenntnis ist wesentlich an der mathematischen Methode orientiert, die als ein bestimmtes konstruktives Verfahren, ein konstruktiver Auf- bau des Reiches der Gegenstände angesehen wird, wie es sich besonders im Reiche der Zahlen manifestiert. Die Zahlenreihe ist eine Schöpfung 104 Ebenso wie die südwestdeutsche Schule. 105 Dazu Aster: l. c., S. 14-16; Kubeš: Právní filozofie 20. století (kantismus, hegelianismus, fenomenologie a teorie myšlenkového řádu) [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts – Kantianismus, Hegelianismus, Phänomenologie und die Theorie der Gedankenordnung] (1947), S. 40 ff. 78","C: Das Werk der mathematischen Vernunft. Nur das, was die Vernunft selbst schafft, kann der menschliche Geist a priori und mit absoluter Sicherheit erken- nen, weil das Denken in diesen schöpferischen Konstruktionen der reinen Mathematik nur die Normen der Logik verfolgt. Die Erkenntnis in ihrer reinen Form ist nach dem Marburger Neukantianismus ein Gedankenauf- bau der logisch-mathematischen Welt der Formen, ein Gedankenaufbau eines bestimmten Gewebes gegenseitiger Beziehungen. Die Beziehung, die mathematische Funktion, ist der mathematische Grundbegriff. Die Gegenstände sind durch die festgesetzten Beziehungen ähnlich definiert wie die Glieder einer Zahlenreihe. Die Gegenstände der Welt der Wahr- nehmung werden dadurch erkannt, dass sie in die Begriffe eingeführt, gemessen, gezählt, einfach unter die Gesetze subsummiert werden. Über die Wahrheit unserer Urteile entscheidet letztlich ihre Übereinstimmung mit den logischen Normen, und dies auch, soweit es um die Erfahrungs- urzeile geht, da die Übereinstimmung unserer Urteile mit der Erfahrung nichts anderes bedeutet als die Verbindung und die gegenseitige Verein- barkeit aller unserer Erfahrungsurteile ohne jeglichen Widerspruch. Die logischen Gesetze sind gleichzeitig die obersten Gesetze des Seins. 106 Die Erkenntnis ist das Denken unter dem Erfordernis der logi- schen Einheit und Unwidersprüchlichkeit. Dieses Denken knüpft sich an das Gegebene, an die Wahrnehmung an; dieses Gegebene ist aber keine feste Wirklichkeit, die wir am besten einfach abbilden sollen, sondern eine feststehende Welt der Dinge, die ohne Rücksicht darauf, ob wir sie denken oder nicht, besteht. Das Gegebene ist das, was unserer Erkennt- nis als Aufgabe gestellt ist, daher das Aufgegebene. Sobald wir über das Gegebene etwas aussagen, beginnen wir damit, die Aufgabe zu lösen. Das Gegebene ist also nicht etwas, das fertig und bereit wäre, sondern der postulierte Ausgangspunkt des Erkenntnisprozesses, das Unbekannte, das „X“ der Gleichung der Erkenntnis. Wie dieser postulierte Ausgangs- punkt am Anfang der Erkenntnis steht, so steht als das postulierte Ziel am Ende ein vollkommen bestimmter Gegenstand. Zwischen diesen bei- den Polen breitet sich der Erkenntnisprozess mit seinen einzelnen Phasen 106 Aster: l. c., S. 16-23; Kubeš: l. c., S. 40-44. 79","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) aus, in denen das Gegebene schon das Ergebnis einer gewissen Erkennt- nis ist und dieses Ergebnis wieder eine Aufgabe für eine neue Erkenntnis bedeutet. In diesem Erkenntnisprozess wird nicht ein bloßes Bild der Welt, sondern die Welt des Seins als Korrelat der Erkenntnis in ihren einzelnen Phasen aufgebaut. Alle Erkenntnis ist die Bestimmung des Unbestimmten; der adäquate Ausdruck jeder Erkenntnis ist das Urteil. Unter einem Urteil versteht man hier die begriffliche, gedankliche Fixierung. Die mathematische Gleichung X=a erscheint als die reinste Form des Urteils. Die Natur ist ein bestimmtes örtliches Systems, ein Spezialfall der mathematischen Ordnungsformen. Anstelle der Dinge, die wir wahr- nehmen, treten die physikalischen Konstanten, die das Messen und Zählen bestimmen. Auch die Wahrnehmung wird so zum konstruktiven mathe- matischen Denken, der letzte Rest der Subjektivität ist weggeschafft, die Bestimmung des Unbestimmten, die Lösung jener Gleichung ist gegeben; dadurch ist der Gegenstand für alle denkenden Wesen fixiert, die ebenso wie die objektivierte Welt des Seins in der Einheit einer mensch- lichen Vernunft, der Idee im Sinne Platons, inbegriffen sind. 107 Dieser Erkenntnisprozess und mit ihm die ganze Wahrheit sind nichts Starres, sondern ein in die Unendlichkeit zielendes Verfahren, das den vollkommen bestimmten Gegenstand als führende Idee hat. Die Erkenntnis ist eine Aufgabe, der Sinn dieser Aufgabe ist die fort- schreitende Veränderung des Gegebenen in das Gedachte, und dadurch die Veränderung des individuellen Bewusstseins in die allgemein geltende Vernunft. Diese Vernunft ist für den Neukantianismus eine Idee, eine Auf- gabe und ein Ziel, keinesfalls irgendein absolutes Sein im Sinne Hegels. Der Marburger Neukantianismus beharrt fest auf dem kantischen Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen Vernunft, auf dem Primat des Sollens vor dem Sein. Hermann Cohen geht zwar von dem historischen Kant aus, dessen Studium er auch viele seiner Arbeiten gewidmet hat, in denen er die theo- retische, und auch die praktische Philosophie Kants sowie Kants Kritik 107 Aster: l. c., S. 24-27. 80","C: Das Werk 108 der Urteilskraft interpretierte, die kritische Methode begreift er aber nicht in dem Sinn, dass er die kantische Lehre nur analysieren sollte, sondern er hat sich vielmehr zur Aufgabe gestellt, im Sinne Kants, d. i. im Rahmen der transzendentalen Philosophie, weiter zu gehen, wenn dies auch die Notwendigkeit, den Rahmen des historischen Kant zu verlas- sen, bedeuten sollte. Ebenso wie Kant geht auch Cohen von dem Faktum der wissenschaftlichen Erfahrung aus, das für ihn vor allem das Faktum der Naturwissenschaft ist. Die Aufgabe der Philosophie besteht darin, 109 im Wege der Analyse der wissenschaftlichen Erfahrung immanente logi- sche Bedingungen dieser Erfahrung zu entdecken und zu erklären. Das ist nach Cohenscher Auffassung die sogenannte transzendentale Methode. Das Wesen der kantischen Philosophie beruht, wie Cohen in seinem Werk Kants Theorie der Erfahrung darlegt, in dieser transzendentalen Methode, die von der Existenz der Wissenschaft ausgeht und die Vorbedingungen 110 dieser Wirklichkeit sucht. Cohen betont immer, dass, was bei Kant mit dieser Festsetzung des Problems nicht übereinstimmt, aus der Philoso- phie Kants ausgemerzt werden muss. In der transzendentalen Methode geht es um die Frage der Möglichkeit der Erfahrung, auf welche Frage Kants kopernikanische Wendung in dem Sinne die Antwort gibt, dass sich der Gegenstand der Erfahrung in die Gesetze und die Methoden des erkennenden Bewusstseins zerlegt. Der Weg zur Philosophie wurde für die Marburger Schule ein Weg zur transzendentalen Methode. 111 108 Siehe besonders Cohen: Kants Theorie der Erfahrung (1871), 4. Aufl. (1925); Cohen: Kants Begründung der Ethik (1871), 2. Aufl. (1910); Cohen: Kants Begründung der Ästhetik (1889); Cohen: System der Philosophie, I. Teil. Logik der reinen Erkenntnis (1902), 3. Aufl. (1922); II. Teil. Ethik des reinen Gefühls, 2. Bd. (1912); Cohen: Kommentar zu Kants Kritik der praktischen Vernunft (1907), 2. Aufl. (1917); Natorp: Kant und die Marburger Schule, Kant-Studien, Jg. XVII (1912); Natorp: Vorlesungen über praktische Philosophie (1925). 109 Z. B. Ueberweg-Oesterreich: Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart, 12. Aufl. (1923), S. 435-438; Kinkel: Paul Natorp und der kritische Idealismus, Kant-Studien, Jg. XXVIII (1923), S. 398-418; Cassirer: Paul Natorp, Kant-Studien, Jg. XXX (1925), S. 273-298; Levy: Paul Natorp´s praktische Philosophie, Kant-Studien, Jg. XXXI (1926), S. 310-329; Kubeš: l. c., S. 42 ff. 110 Höffding: Dějiny novověké filosofie [Geschichte der neuzeitlichen Philosophie] (1926), S. 261. 111 Cohen: Kants Theorie der Erfahrung, 4. Aufl. (1925), S. 27. 81","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Cohen schließt den Begriff des Dinges an sich aus; und dadurch unter- scheidet er sich scharf von der wahren Philosophie Kants. Cohen lehnt es im Gegensatz zu Kant ab, die Anschauung als etwas, was dem Denken gleichwertig ist, als heterogene Quelle der Erkenntnis, anzuerkennen. Nach Cohen besteht der Fehler Kants auch darin, dass bei ihm die Sinn- lichkeit dem Denken voranging. Bei Cohen ist das erkennende Denken etwas Schöpferisches im reinsten und absoluten Sinne des Wortes. Der ganze unteilbare Inhalt des Denkens muss eine Schöpfung des Denkens sein. Alle Urteile bewegen sich in gewissen Richtlinien, die Kategorien genannt werden; das sind keine angeborenen Begriffe, sondern grundle- gende Richtlinien, in denen das Urteilen stattfindet. Natorp, ein treuer Anhänger des Marburger Neukantianismus und seines Begründers Hermann Cohen, vergleicht den Akt des Urteilens in der wissenschaftlichen Erkenntnis mit der Lösung einer mathemati- schen Gleichung. Bei der Interpretation der transzendentalen Methode 112 hat Walter Kinkel klar dargelegt, dass der Gegenstand dem Denken gegeben ist, was aber bedeutet, dass er ihm als Problem aufgegeben wird. Dadurch ist aber keinesfalls der Sinn und die Bedeutung des Begriffs des Gegenstandes ausgedrückt. Die Unbekannte X in der mathemati- schen Gleichung ist gerade im selben Sinne als Aufgabe gegeben, also aufgegeben, wie der Gegenstand für das Denken. In der Gleichung selbst müssen die Bedingungen für die Bestimmung der Unbekannten ent- halten sein, sonst ist das Problem unlösbar. Die Wissenschaft muss dem Gegenstand gegenüber auch die Frage in diesem Sinne stellen, dass sie in sich den Weg zur Lösung enthält. In dem logischen Urteil fällt die Rolle des zu bestimmenden Begriffs dem Subjekt zu, die Mittel der Bestimmung gibt das Prädikat. Daher wäre also ein genauer Ausdruck für das logische Urteil nicht in der Form „S ist P“, sondern „X ist P“ zu suchen. Man kann daher sagen, dass das Objekt der Erkenntnis erst im wissenschaftlichen Urteil entsteht, und zwar gerade im Sinne der kopernikanischen Wendung Kants. 112 Kinkel: l. c., S. 405 ff. 82","C: Das Werk Die Ethik Cohens enthält den Kern der rechtsphilosophischen Aus- führungen Cohens. Auch hier will Cohen die transzendentale Methode, d. h. die Überzeugung, dass es notwendig sei, vom Faktum der Wissen- schaft auszugehen und die Bedingungen der Möglichkeit der Wissenschaft 113 zu untersuchen richtig anwenden. In der Lehre Cohens erscheint 114 als zweite Seite des Bewusstseins das Wollen. Neben der Noetik und der Logik ist hier die Ethik von Bedeutung. Ebenso wie die Erkenntnis ste- hen auch das Wollen und das Handeln unter den Gesetzen der Vernunft. Ebenso wie es bei der Wissenschaft um den Prozess der Überwindung des individuellen Vorstellens durch das allgemein geltende Denken, durch die Begriffe der Vernunft geht, so geht es auch beim menschlichen Wol- len und Handeln um den Prozess des fortschreitenden Beherrschens alles Wollens und Handelns durch die praktische Vernunft, durch das mora- lische Gesetz. Beide Prozesse, der „theoretische“ sowie der „praktische“, lassen sich allerdings niemals ganz vollenden. Das Endziel ist die bloße Idee im Sinne Kants, zu der der menschliche Geist fortwährend strebt, ohne dass er sie jemals vollkommen erreichen kann. Wie bei Kant ist auch bei Cohen die Ethik von der Erfahrung unabhängig, weil die Erfahrung uns nur die Nachricht davon, was ist, nicht aber die Nachricht davon, was sein soll, geben kann. Die Ethik ist nämlich nach Cohen eine Lehre vom Sollen. Dasjenige Wollen ist moralisch, das rein für die Pflicht besteht. Sol- ches Wollen nennt Cohen „reines Wollen“. Der zentrale ethische Begriff ist der Begriff der menschlichen Würde. Bei der Beschäftigung mit dem ethischen Problem will Cohen zeigen, dass Kant die transzendentale Methode nur in der Kritik der reinen Vernunft, und zwar nur bis zu den Auslegungen der Ideen der Vernunft folgerichtig, benutzt hat. Cohen will die transzendentale Methode auch auf die Kritik der praktischen Vernunft konsequent anwenden. Auch die Ethik, wenn sie Wissenschaft sein soll, muss auf einer bestimmten Wissenschaft als auf einem Faktum aufgebaut werden, und die Bedingungen dieser Wis- senschaft muss man dann im Wege der kritischen Analyse feststellen. 113 Cohen: Kants Theorie der Erfahrung (1925), S. 66 ff., 77. 114 Z. B. vgl. Aster: l. c., S. 27 ff.; Ueberweg-Oesterreich: l. c., S. 437; Kubeš: l. c., S. 43 ff. 83","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Die Logik der reinen Erkenntnis wurde auf der Mathematik und auf 115 der mathematischen Naturwissenschaft aufgebaut. Ganz analog ver- sucht Cohen – und hier sind wir beim Kern unserer rechtsphilosophischen 116 Ausführungen – die Ethik nach der Rechtswissenschaft zu orientieren. Die Rechtswissenschaft ist nach Cohen die Mathematik der Geisteswis- senschaften. Die Logik findet die Voraussetzung der Naturwissenschaften in reiner Erkenntnis; die Ethik findet analog die Voraussetzung der Rechts- wissenschaft im Begriff des reinen Willens. Die Rechtsphilosophie fällt mit der Ethik in Eins zusammen. Die Rechtsphilosophie ist die Ethik 118 117 des reinen Willens. Die reine Ethik ist die Ethik des reinen Wollens. Das reine Wollen manifestiert sich aber in der Rechtswissenschaft und in der Staatswissenschaft, und zwar durch wissenschaftliche Genau- igkeit und Eindeutigkeit. Deswegen muss die reine Ethik eine Ethik der Rechts- und Staatslehre sein. Die Ethik und das Recht haben nach 119 Cohen einen gemeinsamen Gegenstand; dieser gemeinsame Gegen- 120 stand ist das Handeln, das eine Leistung des Willens ist. „Das Faktum der Rechtswissenschaft“ ist der zentrale Punkt, von dem alle Erwägungen Cohens über die Ethik ausgehen. 3. Die Normative Theorie (oder – wie sie später genannt wurde – die Reine Rechtslehre) ist bei Kelsen seit dem Jahre 1912 durch die Cohensche Auf- fassung der transzendentalen Methode wesentlich beeinflusst. Sie geht bewusst von der transzendentalen Philosophie Kants in der Interpreta- 121 tion Cohens aus. Kelsen selbst stellt ausdrücklich fest, dass das Werk des Begründers des Marburger Neukantianismus Hermann Cohen einen 115 Cohen: Ethik des reinen Willens (1904), S. VII. 116 Dazu Cohen: l. c., S. VII; siehe auch die scharfe Kritik bei Sander, Die transzenden- tale Methode der Rechtsphilosophie und der Begriff des Rechtsverfahrens, Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. I (1919/1920), S. 474 ff. und bei Binder, Philosophie des Rechts (1925), S. 208 ff. 117 Vgl. Larenz: l. c., S. 36. 118 Cohen: l. c., S. 226. 119 Cohen: l. c., S. 227. 120 Cohen: l. c., S. 132. 121 Kelsen: Hauptprobleme, 2. Aufl. (1923), S. 17. 84","C: Das Werk großen Einfluss auf ihn hatte. Demgegenüber – wie wir noch ausführli- cher sehen werden – ist Weyr durch die Schopenhauersche Auffassung der transzendentalen Philosophie beeinflusst. Der charakteristische Zug der Normativen Theorie (der Reinen Rechts- lehre) in philosophischer, bzw. noetisch-logischer Hinsicht ist, wie schon ausgeführt, vor allem die konsequente Anwendung der transzendentalen (kritischen) Methode. Sie untersucht, in welcher Gestalt die apriorischen Prinzipien unseres (sc. juristischen) Erkennens erscheinen, und prüft ihre Geltung und ihren Wert mit Rücksicht darauf, dass sie in der Rechts- erfahrung allgemein und notwendig angewendet werden können. Die normative Theorie analysiert auch den Inhalt des Rechtsbewusstseins und findet in ihm einerseits formale Elemente, anderseits stoffliche Elemente. Die Normative Theorie will nur eine Theorie über diese formalen Elemente sein; diese „mathematisierende“ Tendenz erscheint schon in Kelsens Hauptproblemen, wo Kelsen seine Theorie für eine „Geometrie der totalen Rechtserscheinung“ erklärt. 122 Den Begriff des Rechts kann man nur durch eine Analyse der Vorgangs- weise der Rechtswissenschaft gewinnen. Auch die Normative Theorie geht vom Faktum der Rechtswissenschaft aus und untersucht die Bedin- gungen der Möglichkeit dieser Wissenschaft. Die Normative Theorie geht von der Kantisch-Cohenschen Überzeugung aus, dass uns nicht die „Dinge“ gegeben sind, von denen man dann feste und notwendige Erkenntnisse gewinnen kann, wie die griechische Noetik im Wesent- lichen annimmt, sondern dass das Ding an sich, daher auch „das Recht an sich“ nicht erkennbar ist. Auch bei Kelsen erscheint – allerdings in der Interpretation Cohens – die bekannte Stelle der Kritik der reinen 123 Vernunft, wo Kant vom Gegenstand der Erkenntnis spricht und das Ver- hältnis von Erkenntnis und Gegenstand der Erkenntnis durch seine bekannte kopernikanische Wendung vollkommen anders begründet und wo der Gegenstand der Erkenntnis als die Endphase des Erkenntnispro- zesses erscheint. Erst die Methode der Erkenntnis bildet einen bestimmten 122 Kelsen: Hauptprobleme, 1. Aufl. (1911), S. 93. 123 Kant: l. c., S. 615 ff. 85","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Gegenstand, d. i. sie schafft ihn in logischem Sinne (logischer Idealismus). Die „Spontaneität der Vernunft“ beherrscht auch die Erkenntnistheorie bei Kelsen. 124 Die Normative Theorie (Reine Rechtslehre) ging auch von dem bekann- ten Kantschen Dualismus von Natur, von Sein und Sollen und Sittlichkeit 125 aus und nahm sich den Kantschen Satz, dass das Sollen eine Art von Not- wendigkeit und Verbindung ausdrückt, die sonst in der ganzen Natur 126 nicht vorkommt. Teilweise unter dem Einfluss von Herbart treibt Kelsen den Dualismus von Sein und Sollen ungewöhnlich scharf auf die Spitze; bei ihm handelt es sich um einen Dualismus der Realität und der Idealität, um zwei vollkommen unterschiedliche Reiche, um das Reich der Existenz und das Reich der Geltung, zwischen denen eine unüberbrückbare Kluft besteht. Die Rechtswesensbegriffe, wie z. B. den Begriff der Pflicht oder den Begriff der Norm, kann man überhaupt nicht unter dem Aspekt der Kausa- lität, sondern nur unter dem normativen Aspekt denken. Dem entspricht auch die Unterscheidung der Wissenschaften in kausale und in normative. Kelsen will die transzendentale Philosophie Kants in der Richtung weiter entwickeln, dass er die noetischen und logischen Grundlagen der norma- tiven Wissenschaften untersucht, und geht dabei von der Ansicht aus, dass Kant diese Arbeit nur auf dem Gebiet der Naturwissenschaften durchge- führt hat. Wenn man in der Normativen Theorie von zwei „Reichen“ spricht, fällt man dadurch keinesfalls – wie es scheinen könnte – in irgendeinen ontologischen Dualismus im alten Sinn. Es geht hier vor allem um einen bildlichen Ausdruck für eine Bezeichnung des noetischen Dualismus, dar- über hinaus aber noch um etwas anderes, das tiefer verborgen ist. Durch 124 Anders allerdings Weyr: „Zu behaupten, dass das erkennende Subjekt (allgemein die Wissenschaft) durch seine Funktion erst die Normen bildet, bedeutet daher das Verlassen der grundlegenden noetischen Position, die von dem Gegensatz ausgeht: das (erkennende) Subjekt und das (erkannte) Objekt“ (Teorie práva [Theorie des Rechts], S. 31). 125 Kant: l. c., S. 383. 126 Vgl. Kelsen: Die Rechtswissenschaft als Norm – oder als Kulturwissenschaft, Schmollers Jahrbuch (1916), S. 95 ff.; derselbe: Der soziologische und der juristische Staatsbegriff (1922), S. 81; derselbe: Reine Rechtslehre (1934), S. 20 ff.; Ebenstein: Die rechtsphi- losophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938), S. 17 ff.; Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947). 86","C: Das Werk diesen Ausdruck soll – bei der Mehrheit der normativen Theoretiker viel- leicht unbewusst – der Kern der kopernikanischen Tat Kants ausgedrückt werden. Der Gegenstand der Erkenntnis formt sich – wie wir gesehen haben – erst durch die Tätigkeit des erkennenden Subjekts mittels gewis- ser Erkenntnisformen, und zwar entweder der dem kausalen oder der dem normativem Erkennen adäquaten Form. Durch diese Tätigkeit werden die Gegenstände und ihr Inbegriff, das ist das ganze „Reich“, erst geschaf- fen. Im Begriff des Gegenstandes (des Reiches) ist daher nur ausgedrückt, dass es sich wirklich um verschiedene Gegenstände (Reiche) des Erken- nens handelt, und zwar je nachdem, ob wir für die Bearbeitung des Stoffes die Formen dieser oder jener Erkenntnis benutzen. So begreift man, dass Kelsen als Gegenstand der Rechtswissenschaft das Recht als ein System von Urteilen über das Recht erscheint, ähnlich wie die Natur als Gegen- stand der Naturwissenschaft ein System von Urteilen über die Natur ist. 127 Unter dem Einfluss der neukantianisch orientierten Arbeit Substanzbe- griff und Funktionsbegriff (1910) von Ernst Cassirer bemüht sich auch Kelsen um die Auflösung des ontologischen Begriffe der Sache in Relationen; so zerlegt er z. B. die Rechtsnorm in eine Relation des bedingenden und des bedingten Tatbestandes in dem hypothetischen Urteil der Form „Wenn A soll B sein“ oder den Staat in den juristischen Zurechnungspunkt. 128 Auf Kelsen hatte auch die Philosophie des Als-ob einen Einfluss. Nach 129 Vaihinger besteht alle menschliche Erkenntnis in bloßen Fiktionen, und zwar ohne Unterschied, ob es sich um das Gebiet einer Einzelwissenschaft oder um das Gebiet der Religion und der Metaphysik überhaupt han- delt. Die Wissenschaft ist nicht fähig, uns eine objektive Erkenntnis über die Wirklichkeit zu geben. Es muss uns aber wenigstens darum gehen, dass die Fiktionen zum Zweck, das Leben am besten zu unterstützen, 127 Kelsen: Rechtswissenschaft und Recht, Zeitschrift für öffentliches Recht, 3. Bd., 1922, S. 182. 128 Vgl. Ebenstein: Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938), S. 36 ff. 129 Vaihinger: Die Philosophie des Als-Ob, 5., 6. Ausg. (1920); Kelsen: Zur Theorie der juristis- chen Fiktionen mit Berücksichtigung von Vaihingers Philosophie des Als-Ob, Annalen der Philosophie, Bd. I (1919), S. 630 ff.; derselbe: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. (1923), S. XVII; derselbe: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920), S. IV; Weyr: Bemerkungen zu Hans Vaihingers. Theorie der juristischen Fiktionen, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht (1917), S. 1 ff. 87","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) konstruiert werden. Kelsen sah im Kampf gegen die rechtstheoretischen Fiktionen eine der Hauptaufgaben, und es gelang ihm auch, manche Hypo- stasien, Personifikationen usw., zu entdecken. 5. Der transzendentalen Philosophie im Verständnis Schopenhauer ent- springt auch die genaue Unterscheidung der Sphäre der Erkenntnis (der kognitiven, rechtlich kognitiven Funktion) und der Sphäre des Wil- lens (der volitiven, der rechtlich volitiven Funktion). 130 Auch in der Betonung des Erfordernisses der Reinheit der Methode in der Rechtswissenschaft („Die Reine Rechtslehre“) findet sich die Norma- tive Theorie im Geiste der Kantschen Philosophie. Durch das Erfordernis der Reinheit will die Normative Theorie die nur auf das Recht gezielte Erkenntnis sichern und von der Erkenntnis alles ausschließen, was nicht 131 zum exakt als Recht bezeichneten Gegenstand gehört. Das bedeutet, dass sie die Rechtswissenschaft von allen ihr fremden Elementen befreien will, das ist ihr methodisches Grundprinzip. Für Kelsen und die ganze Normative Schule war damals die Hauptauf- gabe, zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen in ein Ganzes zu vereinigen: 1. die Tendenz, das Recht als Ausdruck eines Sollens zum Unterschied vom Sein zu begreifen, wodurch der Rechtswissenschaft ihr normativer Charakter gegen die Bemühungen, die Rechtswissenschaft unter dem kau- salen Aspekt zu begreifen garantiert werden sollte (die antisoziologische Tendenz); 2. die Tendenz gegen jedes Naturrecht; daher das Bemühen der Normativen Schule, von den rechtlichen Erwägungen alle Elemente dieser Herkunft auszuschließen und sich folgerichtig auf das Erkennen des positiven Materials zu beschränken, wodurch die Normative Theo- rie Berührungspunkte mit dem Positivismus fand (die positivistische Tendenz). 6. Das alles charakterisiert die erste und meiner Ansicht nach entschei- dende Etappe in der wissenschaftlichen Tätigkeit Kelsens, die durch 130 Siehe unten VI. 131 Kelsen: Reine Rechtslehre (1934), S. 1. 88","C: Das Werk die „Hauptprobleme“ (1. Aufl.) gekennzeichnet ist und gemeinsam mit der zweiten Etappe, die mit der zweiten Auflage dieses Werkes, vielleicht sogar schon ein paar Jahre früher beginnt, die wahre Normative Theorie darstellt. Das Hauptmerkmal der ersten Etappe, besonders in ihren Anfän- gen, war eher ein negatives und destruktives, d. h. ein heftiger Kampf gegen die traditionellen Richtungen der Rechtslehre, gegen ihren unkri- 132 tischen methodologischen Synkretismus. Sicher muss man zugeben, dass in den „Hauptproblemen“ die programmatische Festsetzung des Zen- tralbegriffes der gesamten normativen Erkenntnis, d. h. der Norm als 133 des Ausdruckes des Sollens, überhaupt fehlt. Der Begriff der Norm, der Rechtsnorm, und sein Verhältnis zum Begriff des Rechtssatzes bleibt unerörtert, und nur aus gelegentlichen Andeutungen kann man schlie- 134 ßen, dass Rechtsnorm und Rechtssatz dasselbe bedeuten. Trotzdem aber war der Begriff der Pflicht (der Rechtspflicht) für die damalige Auffassung Kelsens ein Rechtswesensbegriff. Die Rechtspflicht und die Rechtsnorm sind von Kelsen und besonders von Weyr sehr stark betont worden. Wie schon angedeutet wurde, war die ursprüngliche Benennung dieser Schule Normative Rechtstheorie, und unter dieser Bezeichnung tritt diese Schule immer noch in der Tschechoslowakei auf. 135 Die Auffassung der Rechtsordnung war in den „Hauptproblemen“ (1. Aufl.) eindimensional – grundsätzlich kamen nur Gesetze in Betracht – und daher statisch. Dieser statische Ausgangspunkt hatte auch zur Folge, dass die rein normative Methode in diesem Werk Kelsens viel konse- quenter als in seinen späteren Werken vertreten wurde. Das erscheint 136 besonders bei der genauen Unterscheidung der Begriffe des (physischen) Menschen und der Person; in den normativen Betrachtungen treten 132 Kubeš: Čirá nauka právní a věda soukromého práva [Die Reine Rechtslehre und die Wissenschaft des Privatrechts], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. 18 (1935); Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 338 f. 133 Weyr: l. c., S. 339. 134 Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1. Aufl. (1911), S. 539 („Da es keinen anderen rechtlich relevanten Pflichten als Rechtspflichten geben kann, ist die Annahme von staatlichen Normen, die keine Rechtssätze sind, ein Unding“); vgl. dazu Weyr: l. c., S. 339. 135 Kubeš-Weinberger (Hg.): Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie) (1980). 136 Dazu uzf. Weyr: l. c., S. 341. 89","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) in den „Hauptproblemen“ nur Personen auf, und zwar als Subjekte, denen die Norm zugerechnet wird. „Nur als Zurechnungspunkt ist der Mensch 137 Person, und darum gibt es Personen, die keine Menschen sind“. Diesen Stand- punkt hat Kelsen später verlassen. 138 In der zweiten Etappe wird die ursprünglich statische Lehre durch den direkten Einfluss von Merkl und den indirekten Einfluss Bierlings und vorher Melanchtons und noch viel früher Platons in eine dynamische Rechtsauffassung umgewandelt. Das Verlassen des statischen Ausgangs- punktes und die Übernahme der dynamischen Rechtsauffassung scheint ein erster Schritt zur Überwindung der absoluten Zäsur zwischen dem Sol- len und dem Sein zu sein. Einen weiteren Schritt bedeutet die neue These Kelsens, dass nur der Mensch, als natürliche Realität, und nicht die Person 139 durch die Rechtsnorm verpflichtet und berechtigt werden kann; hier ist bereits eine Verknüpfung von Norm und Wirklichkeit hergestellt. Übri- 140 gens stellt auch Weyr zu dieser Frage folgendes fest: „Dadurch scheint 141 die ursprüngliche grundsätzliche Trennung zwischen der Welt des Seins und der Welt des Sollens verlassen zu werden, weil in dieser kein Platz für physische Individuen, sondern nur für normative Zurechnungspunkte sein kann“. Auch was die Fassung der sogenannten Doppelnorm betrifft, ist die Abkehr Kelsens von den ursprünglichen Positionen charakteristisch. 142 In der zweiten Etappe relativiert sich der Gegensatz zwischen Sein und Sollen immer mehr. Typisch für diese Richtung sind Kelsens Aus- 143 führungen aus dem Jahre 1928. Zuerst stellt er zwar als Anhänger 144 der Lehre von der Gegensätzlichkeit des Seins und des Sollens fest: „Der Umstand, dass das positive Recht eine Zwangsordnung, das Naturrecht aber 137 Kelsen: l. c., S. 83. 138 Kelsen: Allgemeine Staatslehre (1925), S. 64 („Das Verhalten einer Person ist nie Inhalt der Rechtssätze. Nur das Verhalten der Menschen“.). 139 Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923), S. 83 („Nur als Zurechnungsmoment ist der Mensch Person“.). 140 Moór: Reine Rechtslehre. Randbemerkungen zum neuen Werk Kelsens, Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. XV (1935). 141 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 346. 142 Siehe unten VIII. 143 Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), S. 10. 144 Kelsen: l. c., S. 10. 90","C: Das Werk eine zwangsfreie, anarchische Ordnung darstellt, lässt die Tatsache unberührt, dass beide – als Ordnungen – Normensysteme sind; und dass daher die Normen der einen wie der anderen nur durch ein Sollen ausgedrückt werden. Es ist nicht die Gesetzlichkeit des Müssens, die Kausalität, sondern die von ihr wesensver- schiedene Gesetzlichkeit des Sollens, die Normativität, unter der das System des Naturrechtes ebenso wie das des positiven Rechtes steht“. Sofort danach 145 sagt er aber: „Die Gesetzlichkeit des Sollens kann – wenn sie nicht nur als die Form des Naturrechts, sondern auch als die des positiven Rechtes gelten soll – nur in einem durchaus relativen und formalen Sinne verstanden werden. Als relativ muss zunächst der Gegensatz von Sein und Sollen erkannt werden. Denn das positive Recht erscheint im Verhältnis zum Naturrecht als etwas Künstli- ches, d. h. als etwas durch einen empirischen, im Reiche des Seins, in der Sphäre des tatsächlichen Geschehens verlaufenden menschlichen Willensakt ‚Gesetztes‘, als ein Sein also, als Wirklichkeit, dem das Naturrecht als Wert gegenübersteht; woraus sich ja die Möglichkeit eines wertvollen oder wertwidrigen positiven Rechtes ergibt. Andererseits ist das positive Recht, als Norm, von seinem eige- nen, immanenten Standpunkt aus ein Sollen, ein Wert also, und tritt als solcher der Wirklichkeit des tatsächlichen Verhaltens der Menschen, dieses als rechtmä- ßig oder rechtswidrig wertend, gegenüber. Das Problem der Positivität des Rechts besteht gerade darin: dass dieses zugleich als Sollen und Sein erscheint, obgleich sich diese beiden Kategorien logisch ausschließen“. Die Lösung dieses Problems gelang auch nicht durch die Übernahme der Idee der Grundnorm von Edmund Husserl, die für die zweite Etappe 146 Kelsens, und zwar unter dem Einfluss von Fritz Schreier und Felix Kauf- mann charakteristisch ist. Die vorausgesetzte Grundnorm mit ihrer Grundfunktion der vermeintlichen Überbrückung des absoluten Gegensat- zes zwischen dem Sollen der Norm und dem Sein, der Faktizität des Rechts, und mit ihren zwei weiteren Funktionen: mit der Einsetzung einer ober- sten rechtserzeugenden Autorität (als oberstes Delegationsprinzip soll sie die Geltung der Rechtsordnung begründen) und mit der Einsetzung eines Einheitsprinzips (sie soll die Garantie dafür enthalten, dass das auf solche 145 Kelsen: l. c., S. 10. 146 Husserl: Logische Untersuchungen I (1922); siehe Kap. IX. 91","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Weise Erzeugte sinnvoll begriffen werden kann) bringt nur eine Schein- lösung. Man kann nicht die Auffassung vertreten, dass die Grundnorm die Krone des ganzen Rechtssystems ist und dass sie die wichtigste Ent- deckung der Rechtstheorie oder der Rechtsphilosophie darstellt. Gewiss kann man die Grundnorm als eine vorläufige Beendigung des Stufen- baues der Rechtsordnung überhaupt, als ein Hilfsmittel, begreifen und mit diesem auch weiter operieren. Keinesfalls bedeutet aber die Grund- norm das überhaupt letzte, was man in der Rechtsphilosophie vom Recht sagen kann. Es ist nämlich unbedingt notwendig, das ganze positive Recht, alle Staatsrechtsordnungen mit den einzelnen Stufen des Völ- kerrechts an der Spitze, diese großartige Pyramide der Rechtsordnung der Welt – etwa auch mit der Grundnorm an der Spitze – noch in etwas anderem, Tieferem, zu verankern. Und zwar muss man die ganze posi- tive Rechtsordnung, den ganzen objektivierten Rechtsgeist im objektiven Rechtsgeist, wozu auch die rechtliche Weltanschauung mit der realen Idee des Rechts gehört, und letztlich in der idealen Normidee des Rechts, in die- ser dialektischen Synthese, der Gedanken der Gerechtigkeit, der Freiheit des konkreten Menschen, der Sicherheit und der Zweckmäßigkeit ver- ankern und damit auch begründen. Die Grundnorm kann gewiss keine Hypothese sein, aber auch keine Fiktion. Wenn die Grundnorm eine Fik- tion wäre und wenn von dieser Grundnorm die ganze Rechtsordnung abhinge, dann wäre die Rechtsordnung bloß eine Fiktion. Im Gegensatz dazu aber stellt die Rechtsordnung eine Realität dar. 7. Die dritte Entwicklungsetappe Kelsens kann man der Notwendigkeit der Anpassung an die amerikanischen Verhältnisse zuschreiben, worüber übrigens Kelsen seinen Freund Weyr in seinem ersten Brief nach dem zweiten Weltkrieg in interessanter Weise informierte. Die Relativierung des Gegensatzes des Sein und des Sollens geht in dieser dritten Etappe wei- ter. Die Form der Verknüpfung beider Tatbestände, die entweder im „ist“ oder im „soll“ besteht, erscheint rein formalistisch und letztlich ohne Bedeutung zu sein. Trotzdem kann man vielleicht Kelsens Arbeiten aus 92","C: Das Werk dieser Zeit, namentlich sein groß angelegtes Werk General Theory of Law and State (1945) – sicherlich mit einem gewissen Zögern – in die Normative Theorie, in die Reine Rechtslehre, einreihen. Die vierte Etappe Kelsens, die ungefähr mit dem Jahr 1963 beginnt, geht aber schon so weit, dass sie mit den Grundthesen der Normativen Theo- rie, der Reinen Rechtslehre, unvereinbar erscheint. In den Arbeiten dieser 147 Etappe ist Kelsen zu Feststellungen gekommen, die zu den Grundlagen seiner eigenen Theorie im Gegensatz stehen. So z. B. wenn er unter dem 148 Einfluss von W. Dubislav zu dem Schluss kommt, dass eine Norm einen 149 „Imperator“ voraussetzt. Richtig sagt dazu Alfred Verdross, dass damit Kelsen zu der nominalistischen Begründung des Rechts von W. Ockham zurückkehrt. Das letzte, nach seinem Tod erschienene Werk Die allgemeine Theorie der Normen (1979) bedeutet den Höhepunkt und die Zusammen- fassung dieser Entwicklung, die ihn in die Nähe der Uppsala-Schule (Hägerström, Lundstedt, Olivecrona, Ross) führt. Schon der erste Grundzug der Reinen Rechtslehre, die Anwendung der transzendentalen Methode, und noch mehr der zweite Grundzug dieser Lehre, die scharfe Zuspit- zung des Dualismus von Sein und Sollen, mit den Begriffen der Pflicht (der Rechtspflicht), der Norm (der Rechtsnorm) mit ihrem Sollenscharakter, des Pflichtsubjekts usw., und dann besonders die Sendung dieser Schule, eine konkrete juristische Logik zu sein, scheinen erschüttert zu werden. Dies alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich Kelsen mit seinem großangelegten Werk mit goldenen Buchstaben in die Theorie des Rechts des 20. Jahrhunderts eingeschrieben hat. 147 Kelsen: Recht und Logik, Forum (Wien), 12. Jg. (1965), S. 421 ff., 495 ff., 579 ff., Neues Forum (1968), S. 330 ff.; derselbe: Derogation. In: Essay in Legal and Moral Philosophy (1973), S. 260 ff. 148 Dubislav: Zur Unbegründbarkeit der Forderungssätze, Teoria, Jg. 3 (1937). 149 Verdross: Two Arguments for an Empirical Foundation of Natural Law Norms: An Examination of Johannes Messner´s and Victor Kraft´s Aproaches, Syracuse Journal of International Law and Commerce, Jg. 3 (1975), S. 151; Vgl. Kubeš: Die Logik im rechtli- chen Gebiet, öZöR, Jg. 27 (1976), S. 271-286; derselbe: Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Normen und die Zukunft der Reinen Rechtslehre, öZöR und Völkerrecht, Jg. 31 (1980), S. 155-159. 93","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) III Die spezielle philosophische Fundierung bei Weyr 1. Während die Kelsensche Auffassung der transzendentalen Philosophie wesentlich unter dem Einfluss der Cohenschen Interpretation stand, sieht dagegen Weyr die Lehren Kants ausschließlich durch die Brille Arthur Schopenhauers. Es scheint daher angebracht, etwas näher zu dieser Phi- losophie Stellung zu nehmen. Die Schopenhauersche Philosophie hatte, über verschiedene Rich- tungen, einen ziemlich großen Einfluss auf die Rechtsphilosophie 150 des 20. Jahrhunderts. So ist z. B. auch die Rechtsphilosophie Georg Stocks nach dieser Philosophie orientiert, aber in anderer Richtung als Weyr und seine Schule. Vor allem hatte das aus Schopenhauers Jugend stammende noeti- sche Werk Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde 151 einen durchdringenden Einfluss auf Weyrs Normative Theorie, auch auf Engliš‘ wirtschaftliche Teleologie und besonders auf das Werk Loeven- steins. In diesem Werk unterscheidet Schopenhauer principium essendi, 152 fiendi, agendi und cognoscendi und bezeichnet die diesbezügliche Ordnung als systematisch; nach der didaktischen Ordnung unterscheidet Scho- penhauer principium fiendi, cognoscendi, essendi und agendi. Der Satz vom 150 Stock: Rechtsphilosophie (1931). 151 Hauptwerke Arthur Schopenhauers: Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde, 1. Aufl. (1813), 2. Aufl. (1847), 6. Aufl. (1908) (zitiert nach der Aufl. Inselverlag, Bd. III, S. 1-180); Die Welt als Wille und Vorstellung, 1. Aufl. (1819), 2. Aufl. (1844), 3. Aufl. (1859), 10. Aufl. (1916) (zit. Nach der Aufl. Inselverlag Bd. I, II – zum ers- ten Band ist als Anhang „Kritik der Kantischen Philosophie“ angeschlossen S. 539-692); Über den Willen in der Natur, 1. Aufl. (1836), 2. Aufl. (1854) (l. c., Bd. III, S. 181-349); Die beiden Grundprobleme der Ethik I – über die Freiheit des menschlichen Willens, II. über das Fundament der Moral, 1. Aufl. (1841) (l. c., Bd. II, S. 351-671); Parerga und Paralipomena, 2 Bde., 1. Aufl. (1851) (l. c., Bd. IV und V); dazu Fischer: Schopenhauers Leben, Werke und Lehre, Geschichte der neuern Philosophie, 9. Bd. (1908); Deussen: Neuere Philosophie, 2. Aufl. (1922), S. 376-586; Ueberweg-Oesterreich: Die deutsche Philosophie des XIX. Jahrhunderts und der Gegenwart, 4. Teil, 12. Aufl. (1923), S. 133-147; Windelband-Heimsoeth: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1935), S. 495-497, 522-524; Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947), S. 87-90. 152 Loevenstein: Velká teleologie [Die große Teleologie] (1934). 94","C: Das Werk zureichenden Grund drückt in seiner allgemeinen Formulierung die Ver- bindung aus, die zwischen unseren Vorstellungen besteht, gesetzmäßig und nach der Form a priori bestimmbar ist; und nach ihm kann für uns nichts Objekt sein, was als Einzelnes nur für sich selbst und unabhän- gig existieren würde, und auch nichts einzelnes und ohne Verbindung Bestehendes. Diese Verbindung ist je nach der Art der Objekte verschie- den. Alles, was für uns Objekt sein kann, also alle unsere Vorstellungen, teilt sich in vier Klassen, und danach hat der Satz vom zureichenden Grund eine vierfache Gestalt. Die erste Klasse der möglichen Gegen- stände unseres Vorstellungsvermögens ist die Klasse der Vorstellungen, der vollkommenen und empirischen Anschauungen. Die Formen die- ser Vorstellungen sind die Formen des inneren und des äußeren Sinnes, die Zeit und der Raum. In dieser Klasse von Objekten tritt der Satz vom zureichenden Grund als das Gesetz der Kausalität auf. Es ist das principium rationis sufficientis fiendi. Die zweite Klasse von Objekten für das Subjekt wird aus Begriffen oder abstrakten Vorstellungen gebildet. Auf die- sen Begriffen und auf die Urteile, die aus ihnen gebildet sind, bezieht sich der Satz vom zureichenden Grund der Erkenntnis, principium ratio- nis sufficientis cognoscendi, nach dem das Urteil, wenn es eine bestimmte Erkenntnis ausdrücken soll, einen zureichenden Grund haben muss, für den es dann das Prädikat der „Wahrheit“ erhält. Die Wahrheit ist entweder logisch, d. i. formal, nämlich in Bezug auf die Richtigkeit der Verbindung der Urteile, oder materiell, wenn sich das Urteil auf die sinnliche Anschau- ung stützt, oder empirisch (wenn es sich direkt auf die Erfahrung stützt), transzendental (sich auf die Formen der Erkenntnis, die in der Vernunft oder in der reinen Sinnlichkeit sind, stützt) oder metalogisch (wenn es sich auf die formalen Bedingung alles Denkens, die in der Vernunft sind, stütz; es handelt sich hier um die Wahrheit des Satzes der Identi- tät, des Widerspruchs, des ausgeschlossenen Dritten und des Satzes vom zureichenden Grund des Urteils selbst). Die dritte Klasse der Gegenstände für das Vorstellungsvermögen bildet den formalen Teil der vollkomme- nen Vorstellungen, nämlich die apriorischen Anschauungen der Formen des äußeren und inneren Sinnes, des Raumes und der Zeit. Als reine 95","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Anschauungen bestehen Gegenstände des Vorstellungsvermögens für sich und getrennt von den vollkommenen Vorstellungen. Der Raum und die Zeit haben die Eigenschaft, dass alle ihre Teile zueinander in einem bestimmten Verhältnis stehen, nach dem jeder Teil durch den zweiten Teil bestimmt und bedingt ist. Im Raum heißt dieses Verhältnis Situation, in der Zeit Folge. Das diesbezügliche Gesetz, nach dem die Teile des Raumes und der Zeit bestimmt sind, bezeichnet Schopenhauer mit dem Satz vom zureichenden Grund des Seins, principium rationis sufficientis essendi. Jeder Augenblick ist in der Zeit durch den vorhergehenden Augenblick bedingt, und darauf beruht alles Rechnen. Auf einem analogen Nexus der Situa- tion von Teilen im Raum beruht die ganze Geometrie. Die vierte Klasse von Gegenständen des Vorstellungsvermögens wird durch das unmittel- bare Objekt des inneren Sinnes, durch das Objekt des Wollens, das für das erkennende Subjekt das Objekt darstellt, gebildet; im Hinblick auf das Wollen tritt das Gesetz vom zureichenden Grund als Gesetz vom zurei- chenden Grund des Handelns, principium rationis sufficientis agendi, bzw. als das Gesetz der Motivation, auf. Diese Schopenhauersche Unterscheidung zwischen den Wurzeln des Satzes vom zureichenden Grunde hatte einen großen Einfluss auf die Normative Theorie Weyrs, weil auf ihr der Unterschied zwischen der naturwissenschaftlichen Erkenntnis einerseits und der normati- ven, bzw. teleologischen Erkenntnis anderseits im Rahmen dieser Schule 153 beruht. Ganz im Geiste Schopenhauers wird für die normative und teleologische (Engliš) Brünner Schule die Antwort auf die allgemeine Frage „warum?“ nicht nur das grundlegende, sondern auch das einzige Problem der Erkenntnis. Die Lösung dieses Problems legt Weyr folgender- maßen dar: „Denn erkennen bedeutet demnach soviel wie – mit zureichendem 154 Grunde – auf die Frage antworten zu können: warum? Für den naturwissen- schaftlichen (kausalen) Bereich fordern wir dann die Antwort auf die Frage: warum geschieht bzw. geschah oder ist etwas?, für den normativen und teleolo- gischen Bereich wollen wir die Antwort auf die Frage, warum etwas sein soll oder 153 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 335 ff. 154 Weyr: l. c., S. 336. 96","C: Das Werk gewollt ist, mit anderen Worten, im ersten Fall fragen wir nach den Ursachen einer bestimmten Folge, im zweiten Falle nach der Norm, bzw. nach dem Postu- lat, nach der (dem) etwas sein soll, bzw. gewollt ist. Für den Kenner der Noetik Schopenhauers ist es klar, dass die Grundfrage (warum?) von der tschechischen juristischen Normologie, bzw. Teleologie zwar schopenhauerisch gestellt ist, dass aber die Antwort auf sie – d. i. die Anführung des diesbezüglichen zureichenden Grundes (ratio sufficiens) – nicht mehr im Sinne der Lehre des Meisters geschieht. Denn seine vierfache Wurzel hat einen anderen Sinn und eine andere Bedeutung als der Dualismus der Erkenntnismethoden, zu welchen diese gelangt“. In seiner weiteren Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung mit ihrem einführenden Satz „die Welt ist meine Vorstellung“, der gleichzeitig die Essenz der schopenhauerschen Noetik enthält, zeigt sich Scho- 155 penhauer zwar als leidenschaftlicher Kantianer und entwickelt dort ein System, das mit Kant das gemeinsam hat, dass es den Raum, die Zeit und die Kategorien bloß als Eigenschaften des erkennenden Subjekts begriffen und die Erscheinungen für bloße Vorstellungen des Subjekts betrachtet werden, sieht Schopenhauer aber im Willen, den er im wei- testen Sinn begreift und das unter ihn auch den unbewussten Trieb und gleichzeitig die in der anorganischen Natur sich manifestierenden Kräfte subsumiert, das Ding an sich. In dieser Hinsicht folgt die Normative Theo- rie Schopenhauer nicht. Sie folgt ihm auch nicht in seiner grundsätzlichen monistischen Auffassung. Schopenhauer lehnt nämlich den Dualismus der theoretischen und der praktischen Vernunft ab und anerkennt nur die theoretische Vernunft. Deswegen ist auch die dualistische Grundlage der Normativen Theorie nicht schopenhauerschen, sondern rein kanti- schen Ursprungs, auch wenn dieser Dualismus in der Normativen Theorie wieder anders als bei Kant aufgefasst ist. Sehr weitgehend ist dagegen der schopenhauersche Einfluss auf die Normative Theorie, soweit es um die Unterscheidung des Gegensat- zes des Intellekts und des Willens, der kognitiven und der volitiven Sphäre geht, und ferner soweit es sich um das schopenhauersche Postulat handelt, 155 Hoppe: Přirozené a duchovní základy světa [Die natürlichen und die geistigen Grundlagen der Welt] (1925), S. 186. 97","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) von dem seine Erkenntnistheorie durchdrungen ist: Es gibt kein Objekt 156 ohne Subjekt. Das Subjekt und das Objekt sind korrelative Teile dessel- ben Ganzen. Sonst hatte Schopenhauers Auffassung der transzendentalen Philoso- phie Kants, wie Schopenhauer sie im Anhang zu seiner Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung, den er „Kritik der kantischen Philosophie“ bezeichnete, auf Weyr einen entscheidenden Einfluss. Diese Schopenhauersche Auffas- sung der transzendentalen Philosophie erscheint an zahlreichen Stellen von Weyrs großartigem philosophischen System. Ich meine, dass ich mich nicht irre, wenn ich behaupte, dass auch die ganze bekannte und sehr 157 fruchtbare Polemik zwischen Weyr und Kallab über das Wesen des kriti- schen Idealismus, darüber, was der eigentliche Gegenstand der normativen Erkenntnis ist, über das Problem der Wirklichkeit und des Dinges an sich, über das Problem der Einheit unserer Erkenntnisse usw., darauf beruht, dass Weyr die transzendentale Philosophie im Lichte der Lehre Schopen- hauers begreift. Schon z. B. die wesentliche Vereinfachung des Systems der Kategorien, wie es Schopenhauer darlegte, ist auch für Weyr typisch. Nach Weyr „vergegenwärtigt sich der kritische Idealismus, wie ihn die kanti- sche Philosophie und seine ganze nachfolgende, sehr verbreitete Schule lehren, dass wir die sog. äußere Welt oder die Natur durch eine bestimmte Methode erkennen, die die Vorstellungen der Zeit und des Raumes und des sog. kausalen Gesetzes als Erkenntnismittel benützt“. Gleichfalls schopenhauerisch ist 158 Weyrs Überzeugung, dass die Formen der Zeit und des Raumes, das Kau- salgesetz für die naturwissenschaftliche Erkenntnis sowie der ganze 159 normative Standpunkt dem menschlichen Intellekt „angeboren“ sind. Obwohl einige Stellen des kantschen philosophischen Systems zu dieser Vorstellung von der „Angeborenheit“ verführen können, ist es im Sinne 156 Hoppe: l. c., S. 186. 157 Kallab: Právní věda a věda o právu [Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. XVIII (1935), S. 321-344; Weyr: Právní věda a věda o právu (Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht), l. c., S. 81-120. 158 Weyr: Úvod do studia právnického [Die Einführung in das juristische Studium] (1946), S. 12; derselbe: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 24. 159 Weyr: Úvod do studia právnického [Die Einführung in das juristische Studium] (1946), S. 14 ff; derselbe: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 24. 98","C: Das Werk der großen Arbeit, die die neukantianischen philosophischen Richtun- gen geleistet haben, notwendig, mit aller Konsequenz darauf zu beharren, dass diese Annahme von der „Angeborenheit“ gewisser Vorstellungen voll- kommen unkantisch ist, dass z. B. die Annahme nicht richtig ist, Raum und Zeit wären irgendwie zeitlich apriorisch; und die Apriorität, bzw. die Rein- heit dieser Vorstellungen, bzw. der Begriffe, bedeutet nichts anderes, als dass sie unabhängig von der Erfahrung sind, dass sie in dem Sinne not- 160 wendig sind, dass sie nicht weggedacht werden können. Nach meiner Meinung ist auch Weyrs Überzeugung schopenhauerisch, dass Gegen- stand der normativen Erkenntnis die Norm ist, die also wahrscheinlich erst erkannt werden muss, und dass der Erkenntnisprozess kein schöp- ferischer Prozess ist. Nach Kant allerdings – wie der Neukantianismus bewies – ist der Gegenstand der Erkenntnis das Endprodukt des ganzen Erkenntnisprozesses, das uns am Ende erscheint, wenn wir das chaotische Empfindungsmaterial schon durch gewisse apriorische Formen verarbeitet haben, und kantisch ist die Überzeugung von der Spontaneität, also einer gewissen Kreativität – wenn auch nicht einer Kreativität aus dem „Nichts“ – der menschlichen Vernunft, zum Unterschied von der bloßen Rezeptivität. Gleichfalls die ganze Meinung Weyrs vom Wesen des kritischen Idealis- mus, wie er sie z. B. in seiner ausgezeichneten Einführung in das juristische Studium dargestellt, ist durchaus durch die schopenhauersche Auffas- 161 sung von der transzendentalen Philosophie, wie sie im Anhang zur Schrift Die Welt als Wille und Vorstellung dargelegt ist, beeinflusst. Es ist auch interessant, an dieser Stelle die bekannte Polemik Weyrs gegen die Auffassung Kallabs anzuführen. Strittig war vor allem die Frage, 162 was die Wirklichkeit ist. Unter der Wirklichkeit versteht Kallab „den Gegenstand der Erkenntnis, wenn wir von der Form der Erkenntnis abstrahie- ren, also etwas dem kantschen Ding an sich ähnliches“. Folgerichtiger wäre es, wenn Kallab schlicht und einfach sagen würde, dass sein Begriff der Wirklichkeit mit dem kantschen Begriff des Dings an sich identisch 160 Kubeš: l. c., S. 58. 161 L. c., S. 12 ff. 162 Kallab: Právní věda a věda o právu [Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht], l. c., S. 322. 99","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) ist. Er würde damit den weiteren Einwendungen vermeiden, dass er einen Ausdruck benutzt, der sich schon typisch für die Bezeichnung des Gegenstandes der Erkenntnis im Bereich der kausalen (naturwissen- schaftlichen) Erkenntnis, d. h. für die Benennung von etwas anderem, eingelebt hat. Gegen die Kallabsche Auffassung der Wirklichkeit wendet Weyr ein, dass „nach der Normativen Theorie die Wirklichkeit eine ausschließ- lich naturwissenschaftlich-kausale Kategorie ist, was bedeutet, dass sie entweder ist oder nicht ist, sodass über sie keine anderen als existentiale Aus- 163 sagen gemacht werden können“. In dieser Hinsicht hat Weyr sicher Recht. Kallab hat terminologisch einen unpassenden Ausdruck verwendet. Man kann aber nicht mit Weyr übereinstimmen, wenn er feststellt, dass Kallab die noetische Grundlage der Normativen Theorie negiert, die angeblich darin besteht, dass neben der Wirklichkeit noch ein anderer Gegenstand der möglichen Erkenntnis zugelassen wird. 164 Weyr gelangt zwar auf der einen Seite vom Standpunkt der transzen- dentalen Philosophie zur richtigen Erkenntnis, dass der gemeinsame Gegenstand der kausalen, der normativen und der teleologischen Erkenntnis das Ding an sich ist, auf der anderen Seite aber stellt 165 er im Widerspruch zu diesem grundlegenden Ausgangspunkt fest: „Des- wegen beharre ich darauf, dass der Gegenstand der normativen Erkenntnis die Normen sind und dass es nicht möglich ist, die Sache so zu begreifen, dass er aus Gegenständen oder Sachen bestünde, von denen diese Normen handeln, obwohl man auf der anderen Seite sagen kann, dass es Zweck der normativen Erkenntnis ist, den Inhalt der Normen d. i. das, was nach ihnen sein soll, zu erkennen“. Nach meiner Meinung sagt Kallab richtig und im Geiste des kritischen Idealis- 166 mus, dass, wenn die Norm die Form ist, in der ich aussage, dass etwas sein soll, sie niemals an sich selbst der Gegenstand der Erkenntnis sein kann (außer in der exakten Normologie). Die Norm als die Form der Erkennt- nis, bzw. – im Bereich der kausalen Erkenntnis – das existentielle Urteil, 163 Weyr: Právní věda a věda o právu [Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht], l. c., S. 84 ff. 164 Weyr: l. c., S. 84 ff. 165 Weyr: l. c., S. 85. 166 Kallab: l. c., S. 325. 100","C: Das Werk ist kein Gegenstand der Erkenntnis, sondern ein Instrument, das mir erst die Erkenntnis und die Bildung des Gegenstandes der Erkenntnis als der Endphase des Erkenntnisprozesses ermöglicht. Meiner Meinung nach ist der tiefere Grund dieses gegenseitigen Missverständnisses in Wahrheit, dass Weyr bei dieser Erwägung eine der grundlegenden Thesen der transzendentalen Philosophie außer Acht lässt, nämlich die Lehre von der Spontaneität der Vernunft. Man kann daher nicht sagen, dass das noetische Subjekt im Bereich der Erkennt- nis nur passiv ist, sondern es ist vielmehr im wahrsten Sinne des Wortes schöpferisch, und es ist daher auch die Erkenntnistätigkeit eine aller- dings logisch richtig bearbeitete schöpferische Tätigkeit, im Unterschied zu jener anderen schöpferischen Tätigkeit, die für die volitive Sphäre cha- rakteristisch ist, die nach Weyr bedeutet, dass man aus dem Nichts etwas, eine bestimmte Regel, eine bestimmte Norm, schaffen will. Im Geiste der reinen transzendentalen Philosophie muss man auch mit der Behauptung Kallabs einverstanden sein, dass man richtige Erkennt- nisse nur daran erkennen kann, ob man sie ohne logischen Widerspruch in ein bestimmtes Gedankensystem einreihen kann. Das, was nicht 167 in das „Bewusstsein“ des noetischen Subjekts eingetreten ist, kann nicht Kriterium der Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer bestimmten Erkenntnis sein, aus dem einfachen Grund, dass man davon, was nicht in das „Bewusstsein“ eingetreten ist, überhaupt nichts wissen kann. IV Der noetische Dualismus bei Kelsen 1. Im Sinne des logischen Idealismus der Marburger Richtung des Neu- kantianismus ist die Erkenntnismethode (der noetische Standpunkt, die noetische Kategorie) als Ausdruck der schöpferischen Funktion der Ver- nunft das Entscheidende und Wichtigste. Das ist die Folge der Lehre 168 167 Kallab: l. c., S. 330. 168 Aster: Die Philosophie der Gegenwart (1935), S. 54; Ebenstein: Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938), S. 43. 101","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) von der Spontaneität der Vernunft, dem innersten Kern der transzenden- talen Philosophie Kants (neben dem Ding an sich), die gerade Hermann Cohen bis zum äußersten hervorhob. 2. Wir wissen, dass im System der Reinen Rechtslehre die Begriffe Natur, Wirklichkeit und Sein im gleichen Sinne verwendet werden, ebenso wie die ihnen entsprechenden Gegenpole Geist, Wert und Sollen fürein- 169 ander stehen können. Die Natur (die Wirklichkeit) ist als solche nur dann gegeben, wenn wir das unbekannte Ding an sich mittels einer spe- zifischen Erkenntnismethode (mittels eines noetischen Standpunktes, einer noetischer Kategorie) beobachten und bearbeiten, und zwar mittels der kausalen Erkenntnismethode. Ebenso wie das Natursein als solches da ist, wenn wir die Kausalität benützen, muss man beim Recht eine ganz andere Erkenntnismethode anwenden, nämlich die normative. Kelsen ist ein noetischer Dualist. Je nachdem, ob das Ziel der Betrachtung das Sein tatsächlichen Geschehens, d. h. eine Realität, oder ein rechtliches, sittliches usw. Sollen, d. h. – nach ihm – eine Idealität ist, scheidet sich unsere Erkenntnis wie die Welt in zwei grundverschiedene Sphären, scheiden sich die Wissenschaften in Kausalwissenschaften einerseits und Normwissen- schaften anderseits. Wie wir auch schon wissen, ist die Normative Theorie 170 (die Reine Rechtslehre) aus dem bekannten Kantschen Dualismus von Natur und Sittlichkeit, von Sein und Sollen, entstanden. Man begegnet daher bei Kelsen solchen Dualismen: die Kausalität und die Natur einerseits und die Normativität (die Norm, die Pflicht, das Sol- len) und das Recht (die Moral) anderseits. Diese Betonung der Gleichwertigkeit der normativen Erkenntnis (des normativen noetischen Standpunktes, der Kategorie der Normativität) ist auch der Grund, warum die neue Rechtstheorie ursprünglich Normative Rechtstheorie hieß und erst später von Kelsen (nicht aber von Weyr) Reine Rechtslehre genannt wurde. 169 Ebenstein: l. c., S. 47. 170 Vgl. Ebenstein: l. c., S. 17 ff. 102","C: Das Werk Die Teleologie (als Zwecktätigkeit, eventuell als bloße Zweckmä- ßigkeit) ist bei Kelsen keine selbständige Kategorie, keine Selbständige Erkenntnismethode, sondern – so wie z. B. bei Wilhelm Wundt – eine bloß umgekehrte Kausalität. 171 Ganz anders war es bei Rudolf Stammler, gegen den Kelsen auch pole- misierte. Stammler gelangt nämlich zu der grundlegenden Einteilung 172 unserer Bewusstseinsinhalte in Wahrnehmung und Wollen. Das sind nach Stammler überhaupt zwei grundsätzliche Erkenntnismethoden. Neben dem Reich der Wahrnehmung besteht hier das Reich der Zwec- 173 ke. Die Unterscheidung beider Reiche ist die Unterscheidung nach den grundlegenden Ordnungsprinzipien. Das eine Reich ist geordnet nach der Form von Ursache und Wirkung, das zweite nach der Vorstellung von Zweck und des Mittels. Beides bezeichnet gleichwertige Methoden. Für diese zwei grundlegenden und grundverschiedenen Erkenntnisarten, die vollkommen verschieden sind, erscheinen bei Stammler verschie- dene antithetische Ausdrücke: Kausalität und Telos, Natur und Zweck, Erkenntnis und Wille, Werden und Bewirken und vor allem Wahrnehmen und Wollen. Mit allen diesen Dualismen ist immer ein und derselbe Gegen- satz gemeint. Stammler will dadurch einfach ausdrücken, dass wir 174 Inhalte unserer Vorstellungen entweder nach dem Prinzip der Kausalität, d. i. nach der Kategorie von Ursache und Wirkung, oder nach dem Prinzip der Finalität (Teleologie), d. i. nach der Beziehung des Mittels zum Zweck, ordnen können. Ebenso wie die Begriffe Ursache und Wirkung sind auch die Begriffe Mittel und Zweck reine Formen des Denkens. 175 171 Jetzt vgl. besonders Kelsen: Allgemeine Theorie der Normen (1979), S. 9. 172 Stammlers Hauptwerke: Wirtschaft und Recht (1896), 5. Aufl. (1924); Die Lehre von dem richtigen Rechte, (1902), 2. Aufl. (1926); Theorie der Rechtswissenschaft (1911), 2. Aufl. (1923); Lehrbuch der Rechtsphilosophie, (1922), 3. Aufl. (1928); Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge (1925); Rechtsphilosophie. In: Stammler (Hg.): Das gesamte deutsche Recht, Bd. 1. (1931), S. 1-88; vgl. Dohna: Rudolf Stammler zum 70. Geburtstag, Kant-Studien, Bd. XXXI (1926), S. 3. 173 Stammler: Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 6 ff. 174 Vgl. Dohna: l. c., S. 16. 175 Stammler: Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1922), S. 57, Anm. 3. 103","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) So gelangt Stammler zu seiner bekannten Unterscheidung der Wis- 176 senschaften in Naturwissenschaften und Zweckwissenschaften. Die Naturwissenschaft ist durch den kausalen noetischen Standpunkt cha- rakterisiert, d. i. sie ordnet Wahrnehmungen nach Ursachen und Folgen (Wirkungen). Die Zweckwissenschaften, für die Stammler die typisch 177 kritische Frage nach ihrer Möglichkeit stellt, hat mit der Ordnung der Willensinhalte zu tun, und zwar zuerst mit ihrer Bestimmung nach festen Begriffen, dann mit ihrer Ausrichtung auf der Idee des reinen Wol- lens. Im Gegensatz dazu sind nach Kelsen die teleologische Betrachtung 178 nach Mittel und Zweck und die kausale nach Ursache und Wirkung kei- nesfalls zwei verschiedene Erkenntnismethoden. Über die Teleologie als eine ebenbürtige noetische Kategorie wird man im nächsten Kapitel aus- führlicher sprechen. V Der noetische Trialismus bei Weyr 1. Ursprünglich war Weyr – wie Kelsen – ein noetischer Dualist. Unter dem Einfluss von Engliš gelangte aber Weyr später vom Sein-Sollen-Dualismus zu einer trialistischen Konzeption: Normologie, Teleologie und Ontologie. 179 Zur Erklärung der Entwicklung der Brünner Schule muss auf die Tat- sache hingewiesen werden, dass in Brünn gleichzeitig eine interessante und in wesentlicher Beziehung verwandte nationalökonomische Schule entstanden war. Sie wurde hauptsächlich von Karel Engliš, Jan Loeven- stein und Václav Chytil entwickelt. Diese nationalökonomische Schule stellte sich vor allem die Aufgabe, eine formale Theorie der Teleologie (d. h. der Zwecksysteme, der Zweck-Mittel-Relationen und der durch Zwecksysteme bestimmten Wahlentscheidungen) zu erarbeiten, die als Grundlage aller ökonomischen Überlegungen Verwendung finden sollte. 176 Stammler: Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 55-62; Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1922), §§ 28 -29. 177 Stammler: Theorie der Rechtswissenschaft (1911), S. 58. 178 Stammler: Lehrbuch der Rechtsphilosophie (1922), § 28, Anm. 4. 179 Weyr: Úvod do studia právnického. Normativní teorie [Einführung in das juristische Studium. Die Normative Theorie] (1946), S. 17. 104","C: Das Werk In der Bemühung dieser Schule, eine formale Grundlagentheorie der Öko- nomie zu entwickeln, zeigt sich eine ähnliche Einstellung. Wie bei der Reinen Rechtslehre, die eine allgemeine Strukturtheorie des Rechts und die Ausarbeitung eines Systems von Rechtswesensbegriffen anstrebte. 180 2. Engliš war auch ein hervorragender Logiker und erarbeitete seine Theorie der Gedankenordnung. Die Theorie der Gedankenordnung ist eine noetisch-logische und in ihrer Anwendung auf rechtliche Phänomene eine rechtlich-noetisch-logische Lehre. Ursprünglich ging Engliš von der Nor- mativen Theorie aus, d. h. von der Lehre Kelsens und Weyrs. Seine erste noetisch-logische Arbeit Nástin národohospodářské noetiky [Abriss einer 181 Volkswirtschaftsnoetik] trägt sichtlich den Stempel der kantschen Philosophie, allerdings in der Auffassung Schopenhauers. Besonders Scho- penhauers klassisches Jugendwerk Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde beeinflusste Engliš (ebenso wie Weyr) in wesentlichem Maße. Engliš ist aber nicht bei seinem ursprünglichen Ausgangspunkt 182 stehen geblieben. Seine noetisch-logischen Untersuchungen, die in seiner Malá logika [Kleine Logik] aus dem Jahre 1946 gipfelten, mündeten schließ- lich in einer ganz eigenständigen noetisch-logischen Lehre, die sich trotz einzelner mit der Kant-Schopenhauerschen Philosophie verwandter Züge in wesentlichen Punkten von ihr unterscheidet. Engliš unterzog in seiner 183 Theorie der Gedankenordnung die transzendentale Philosophie einer Kri- tik, um den Unterschied zwischen der kantschen und seiner Auffassung klar hervortreten zu lassen. 180 Kubeš: Die Brünner Schule der Reinen Rechtslehre. In: Kubeš-Weinberger (Hg.): Die Brünner rechtstheoretische Schule (Normative Theorie) (1980), S. 16. 181 Engliš: l. c., Sborník věd právních a státních (1907). 182 Diese Grundlage ist auch in Engliš‘ weiteren Arbeiten deutlich erkennbar, so besonders in: Základy hospodářského myšlení [Grundlagen des Wirtschaftsdenkens] (1927); Poměr mých základů hospodářského myšlení k normativní teorii právní [Das Verhältnis meiner Grundlagen des Wirtschaftsdenkens zur Normativen Theorie des Rechts], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. X (1927), S. 1-15; Teleologická teorie hospodářská a normativní teorie právní [Die teleologische Wirtschaftstheorie und die normative Rechtstheorie], Obzor národohospodářský, Jg. XXXIV (1929), S. 177-192, 267-282; Teleologie jako forma vědec- kého poznání [Die Teleologie als Form wissenschaftlichen Erkenntnis] (1930). 183 Engliš: Velká logika [Die große Logik], ein umfangreiches, noch nicht veröffentlichtes Werk [erschien an der Masaryk-Universität im Jahre 2021 – Anm. des Herausgebers]. 105","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Nach Engliš gibt es keine apriorisch reinen Begriffe, Vorstellungen oder Anschauungen, und zwar weder in der Sinnenwelt noch aus reiner Vernunft heraus. Alle unsere gedanklichen Schöpfungen sind Zweck- gebilde, die uns dazu befähigen sollen, die Wirklichkeit zu erfassen und zu begreifen. Diese Begriffe bilden ein System – eben die Gedankenord- nung. Zwischen den Begriffen des Systems bestehen Zusammenhänge und Beziehungen; die Gedankenordnung ist ein der Erkenntnis dienen- des Instrument. „Dass es sich um ein Zweckinstrument handelt, folgt daraus, dass es durch ein anderes ersetzt wird, wenn es für eine gewisse Aufgabe nicht genügt oder die Lösung der Aufgabe behindert. Nichts ist in ihr a priori aus rei- ner Sinnlichkeit oder aus reinen Vernunft. Wenn wir Beziehungen innerhalb dieser Gedankenordnung erkennen, dann sind diese Urteile gewiss (notwendig, allgemein). Das sind aber nicht nur jene Beziehungen, die Kant aus der reinen Vor- stellung des Raumes und der Zeit sowie aus den Begriffen der Vernunft gewinnt, sondern alle Beziehungen zwischen den Begriffen der Gedankenordnung“. 184 Das Denken ist also nach Engliš eine Zwecktätigkeit, das Ordnen von Gedankeninhalten zum Zwecke der Erlangung des Erkenntniszieles. Das Instrument hierzu ist die Gedankenordnung als ein System der ein- zelnen Denkinhalte mit allen ihren Beziehungen untereinander; auch die Gedankenordnung selbst ist eine zweckgerichtete Schöpfung. Von der Realität „an sich“, ohne unsere Erkenntnis, kann man nichts wissen. Was man über die Realität weiß, ist das Resultat unserer Sinneswahrneh- mungen und Vorstellungen sowie deren gedanklicher Verarbeitung mit Hilfe der Gedankenordnung, der die Funktion eines Erkenntnisinstru- ments zukommt. Was auch immer über die Realität gesagt wird, ist daher bereits durch diese Ordnung geformt, und zwar durch eine von drei mög- lichen Beobachtungsarten: der ontologisch-kausalen, der teleologischen und der normologischen. „Bei der ersten denken wir Erscheinungen als einfach seiend (existent), bei der zweiten als von jemandem gewollt, bei der dritten als etwas, was sein soll. Das sind Grundarten der Beobachtung, die zu verschiedenen Begriffen führen, vielleicht von derselben Wirklichkeit (z. B. von Befehlen und 184 Engliš: Velká logika, díl II, čís. 20, Kantův apriorism a myšlenkový řád [Große Logik, II. Teil, Nr. 20, Kants Apriorismus und die Gedankenordnung]. 106","C: Das Werk Verboten des Staates, die wir Rechtsordnung nennen). Formal lauten die empiri- schen Urteile in diesen verschiedenen Beobachtungsarten dann: Etwas ist, etwas ist gewollt, etwas soll sein“. „Die Frage warum? müssen wir an diese oder jene Beobachtungsart anknüpfen, der ein empirisches Urteil entspricht. Die Fra- gen lauten also: Warum ist das, was ist? Warum ist das gewollt, was gewollt ist? Warum soll das sein, was sein soll? Wir knüpfen also die Frage warum? an die auf eine bestimmte Art beobachtete Wirklichkeit. Jeder dieser Frage entspricht eine angemessene Antwort, durch die sich zu einer durch eine Beobachtungs- art interpretierten (determinierte) Wirklichkeit eine andere interpretierende (determinierende) und in derselben Beobachtungsart aufgefasste Wirklichkeit hinzukommt. Das, was existiert (geschieht, wirkt), wird dadurch interpretiert, was existierte (geschah, wirkte), das Gewollte wird durch das Gewollte interpre- tiert; und das, was sein soll, durch das Sollen. Die empirischen Gedankeninhalte derselben Form werden nach der Beziehung der Determiniertheit geordnet. Zu jeder Beobachtungsart (Form der empirischen Gedankeninhalte) gehört nur das eigene Auslegungsprinzip, die eigene Art des Ordnens der Gedankeninhalte nach der Beziehung der Determination, die ihm eigene Art des Begreifens“. „Alles Begreifen ist also das Zuordnen eines Gedankeninhaltes zum ande- ren und das Einordnen in das ganze System des Denkens nach der Beziehung der Determination, welche ist: a) eine logische und erkennende, wenn wir nach der Geltung der Urteile fragen, die wir durch die Geltung anderer Urteile auslegen, die deren Geltungs- grund sind; b) eine empirische, wenn wir fragen, wie eine Wirklichkeit durch eine andere determiniert ist, wobei wir nach den Beobachtungsarten unterscheiden müssen: 1. die ontologische Determination, bei der wir ein Existierendes (Folge) nach einem zweiten Existierenden (Ursache) auslegen; 2. die teleologische Determination, bei der wir das eine Gewollte (Mittel) durch das zweite Gewollte (Zweck) auslegen; 3. die normologische Determination, bei der wir das eine ‚Sollen‘ durch das zweite ‚Sollen‘ (seinen normologischen Grund) auslegen“. 107","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Wenn wir die Ontologie (die Kausalität) in der Engliš‘schen Auffas- sung beobachten, dann sehen wir, dass wir die Wirklichkeit nur in ihrem 185 Abbild kennen, das durch eine bestimmte Beobachtungsart entsteht. Engliš stellt fest, dass jeder Beobachtungsart eine bestimmte ihr eigene Art des Begreifens entspricht, das entsteht, wenn die Frage an diese Beobachtungsart anknüpft. Die Beziehung der Kausalität ist eine Art des Begreifens der ontologisch gedachten Wirklichkeit und ist mit dieser Beobachtungsart untrennbar verbunden. Die ontologische Art des Den- kens mit ihrem kausalen Prinzip der Auslegung bildet eine bestimmte formale Gedankenordnung, durch die wir die Wirklichkeit erkennen. „Die kausale … Gedankenordnung ist ein System von Begriffen und formalen Regeln, die nur daraus folgen, dass wir die Wirklichkeit als einfach seiend denken und dass wir sie kausal auslegen. Existenz, Ursache, Folge, Materie, Kraft, Energie, die ontologische Qualität, Wert, Bewegung, Beharrlichkeit usw. gehören zu die- ser Gedankenordnung. Ihr Durchdenken würde z. B. zeigen, welche sogenannten physikalischen Gesetze, z. B. das Gesetz von der Beharrlichkeit, in Wirklichkeit keine empirischen, sondern formal logische Gesetze sind. Bei der teleologischen Auslegungsart legen wir ein Gewolltes durch ein anderes Gewolltes aus. Das Gewollte, das wir auslegen, wird dadurch Mittel, das Gewollte, mit dem wir auslegen, ist der Zweck. Es handelt sich um die Teleologie (Finali- tät). In der Reihe der als Mittel und Zweck geordneten Wirklichkeiten ist jede vorangehende (nicht zeitlich, sondern ordnungsgemäß) Mittel und jede nach- folgende Zwecke, diese Reihe ist aber nicht unendlich (wie bei der Kausalität), sondern mündet in einen Zweck, der kein Mittel in Hinsicht auf einen anderen Zweck ist. Diese Art des Denkens und des gedanklichen Ordnens der Wirklich- keiten bildet wieder eine besondere formale Gedankenordnung, die ihr System von Begriffen (Gewolltsein, Subjekt, Mittel, Zweck, Bedürfnis, Nützlichkeit, Wert, Schaden, Kosten, Ertrag) und Regeln (z. B. das Gesetz vom relativen Nutzen, der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit usw.) hat und mit der wir die Wirklichkeit beobachten und auslegen. Mit dieser Gedankenordnung kann man jede Wirklich- keit denken und auslegen, auch die Natur, wann man ihre Gesetzmäßigkeit als 185 Dazu Engliš: l. c., č. 11, Čtvero odpovědí na otázku: proč?, III., Determinismus sku- tečnosti, a) Kausalita [Nr. 11, Die vier Antworten auf die Frage: Warum?, III., Determinismus der Wirklichkeit, a) Kausalität]. 108","C: Das Werk eine Zweckordnung des kosmischen Subjekts auslegt. Damit ist aber nicht gesagt, dass man mit dieser Ordnung alles in der Wirklichkeit sehen kann; wir können nicht das auslegen, was mit einer anderen Art der Beobachtung und des Begrei- fens sichtbar ist. Die Rechtsordnung kann man teleologisch als ein Zwecksystem beschreiben (Befehle und Verbote sind Instrumente zu bestimmten Zwecken, die zusammenhängen, und aus ihnen eine Ordnung machen), aber man kann weder ihre kausale Bedingtheit noch ihre Geltung sehen. Zum vollen Begreifen des Rechts braucht man alle drei Arten der Beobachtung und Auslegung (neben der kausalen und der teleologischen auch die normologische)“. 186 Es ist interessant, dass die Ausarbeitung der teleologischen Gedan- kenordnung Engliš zur Erkenntnis geführt hat, dass manche Begriffe und Gesetzmäßigkeiten, die als Erkenntnisse der empirischen Wissenschaften (z. B. der Wirtschaftswissenschaft) betrachtet wurden, im Wahrheit als formale Begriffe und Regeln sind (Nützen, Wert, Bedürfnis, Ertrag, Kosten usw., der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit u. a.) zeigten, die in der empi- rischen Wissenschaft auf den oder jenen Inhalt (z. B. auf den Inhalt der wirtschaftlichen Zwecke) angewendet wurden. 187 Bei der normologischen Art der Beobachtung und des Denkens der Wirklichkeit, die darauf besteht, dass wir uns die Wirklichkeit als etwas, was (für das Gehorsamssubjekt) sein soll, vorstellen, lautet das grundlegende Urteil: „Etwas soll (für jemanden) sein“; wir müssen also fragen: „Warum soll (oder soll nicht) sein, was (für jemanden) sein soll (oder nicht sein soll)?“ Die Antwort lautet: „Weil etwas anderes sein soll“. Die Wirklichkeit legen wir mit der Norm aus. Mit der Norm kann man nur das (vielleicht gedachte) Handeln regeln, und das wieder fordert daher ein Subjekt der Handlung, das den Normen gehorcht. Gerade vom Beobachtungsstand- punkt des Gehorsamssubjekts erscheint die Norm als Norm. Die Beziehung zwischen der Wirklichkeit und der Norm, mit der wir die Wirklichkeit qualifizieren, ist eine empirische Beziehung und drückt sich als Richtig- keit bzw. als Geltung aus. Hier überall drückt man die Beziehung einer 186 Engliš: l. c., č. 11, Čtvero odpovědí na otázku: Proč?, III. Determinismus skutečnosti, b) Finalita [Nr. 11, Die vierfache Antwort auf die Frage: Warum? III. Der Determinismus der Wirklichkeit, b) Die Finalität]. 187 Engliš: l. c., b) Důvod normologický [b) Der normologische Grund]. 109","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) bestimmten Wirklichkeit (einer Handlung) zu einer Norm aus; und wenn wir fragen, warum das Handeln richtig, gültig usw. ist, antworten wir mit der Beziehung zu dieser Norm als dem Grund der Richtigkeit, der Geltung. Sonst ist der normologische Grund daher nach Engliš eine besondere Art der empirischen Determination, die sich wie von der Finalität und der Kausalität in der Empirie, so auch vom Geltungsgrund des Urteils unter- scheidet, besonders auch vom logischen Grund, der das logische Urteil ist, während das Urteil, durch das wir der Wirklichkeit nach der empirischen Norm die Qualität der Richtigkeit, Erlaubtheit usw. zuerkennen, das qua- lifizierende (bzw. wertende) empirische Urteil ist. 188 Engliš argumentiert, dass die gedanklichen Inhalte nicht nur im Urteil, sondern auch im Postulat und in der Norm geregelt sind, wobei der Zweck der Ordnung der gedanklichen Inhalte im Urteil ein ganz ande- rer ist als im Postulat oder in der Norm. Engliš ist der Überzeugung, dass während der Zweck des Ordnens der gedanklichen Inhalte im Urteil die Erkenntnis ist und daher das Urteil selbst Erkenntnis ist, der Zweck des Ordnens der gedanklichen Inhalte im Postulat ein verständlicher Willensausdruck eines Subjekts ist, nach dem als einer Norm sich ein anderes Subjekt richten soll. Bei der teleologischen Art der Beobachtung und der Erkenntnis der Wirklichkeit handelt es sich um den Blickpunkt des Willenssubjekts; von seinem Standpunkt aus geht es um etwas, was es will, um sein Postulat, das durch ein anderes Postulat begründet ist. Der andere, entgegengesetzte Beobachtungspunkt ist von jenem Subjekt her, dem der Befehl gegeben ist, dem Pflichten auferlegt sind, also vom Gehorsamssubjekt oder Pflichtsubjekt. Es geht hier um den normologi- schen Standpunkt, in dem dieselbe Wirklichkeit (der rechtliche Befehl) als Norm erscheint. Wenn wir in der Rechtsordnung suchen, was gilt, wel- che Pflichten und Rechte die Bürger haben, müssen wir die rechtliche Wirklichkeit mit dem normologischen empirischen Ordnung begreifen; wenn wir im Recht Ordnung und Zweck suchen, müssen wir nach Engliš die Wirklichkeit mit der teleologischen empirischen Ordnung begreifen. 188 Dazu Engliš: l. c., č. 25, Soud – postulát, norma, a) Postulát a norma [Nr. 25, Das Urteil – das Postulat, die Norm, a) Das Postulat und die Norm]. 110","C: Das Werk Das Postulat und die Norm sind ein und dieselbe Wirklichkeit, von der wir diesen zweifachen gedanklichen Gegenstand (das Postulat und die Norm) mit zweiverschiedenen empirischen Gedankenordnungen gewinnen. Im Sinne der Lehre von der Gedankenordnung ist also jede Erkennt- nis eine Verbindung eines Gedankeninhalts mit einem anderen oder seine Einordnung in das ganze Denksystem, je nach seiner Beziehung zur Deter- mination, die entweder logisch erkennend oder empirisch erkennend – also ontologisch-kausal, teleologisch oder normologisch – sein kann. Unter dem direkten Einfluss von Engliš hat Weyr daher den noetischen Dualismus verlassen und sich für den noetischen Trialismus entschie- den. Die Normologie, die Teleologie und die Ontologie bilden nach Weyr 189 „eine feste methodologische Dreigliedrigkeit, in der sich aber die Normologie und die Teleologie gegenseitig näher stehen als die Ontologie“. Sehr scharf hat Jan Loevenstein, besonders in seinem Buch Velká teleologie [Die große Teleologie] diesen noetischen Trialismus herausge- 190 arbeitet und in einem besonderen Kapitel dieses Buches klar bewiesen, dass die Teleologie keine umgekehrte Kausalität ist. 191 3. Nach den großen Arbeiten von Nicolai Hartmann ist es heutzutage klar, dass die Teleologie eine selbständige, ebenbürtige Kategorie neben den Kategorien der Normativität, der Kausalität, der Wechselwirkung und der Zeit ist. 192 Der teleologische Nexus ist dreigliedrig. Diese Dreigliedrigkeit zeigt 193 sich: 1. in der Festsetzung des Zweckes durch das Subjekt; 2. in der rückläufigen finalen Bestimmung der Mittel durch den Zweck, begonnen vom letzten, dem Endzweck am nächsten stehenden Mit- tel, von dem das Subjekt ausgeht; 189 Weyr: Úvod do studia právnického [Einführung in das juristische Studium] (1946), S. 16. 190 Loevenstein: l. c., 1933, besonders S. 27 ff. 191 Hartmann: Ethik (1926), 3. Aufl. (1949); Das Problem des geistigen Seins (1932), 2. Aufl. (1946); Zur Grundlegung der Ontologie (1935); Der Aufbau der realen Welt (1940), 2. Aufl. (1952); Neue Wege der Ontologie (1942). 192 Kubeš: Die Rechtspflicht (1981), S. 104. 193 Hartmann: Ethik, 2. Aufl. (1935), S. 175 ff. 111","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 3. in der Verwirklichung des Zweckes. Dabei setzt sich das in der vor- hergehenden rückläufigen Bestimmung durchgehende Verhältnis vom Mittel und Zweck in ein ebenso durchgehendes, rückläufig kon- tinuierliches Verhältnis von Ursache und Wirkung um. Der teleologische Nexus setzt also den Kausalnexus voraus. Der Kausalne- xus, als eine niedere Form, ist in die höhere und komplexere mit einbezogen. Der Zweck als Vorbestimmung ist die von der Pflicht, vom Sollen bestimmte Setzung. Nur teleologische Determination kann der Pflicht (dem Sollen) im Sein Genüge tun. 194 Die Teleologie und die Normativität sind Charakteristika des Wesens des Menschen. „Für eine nüchterne, den Phänomenen vorurteilslos folgende Philosophie gibt es die Zweckkategorie als konstitutives Prinzip – d. h. als Zwecksetzung und Zwecktätigkeit, nicht als bloße ‚Zweckmäßigkeit‘, die auch akzidentell bestehen kann – überhaupt erst im Bewusstsein“. 195 Im Rechtlichen zeigt sich neben der Kategorie der Normativität und der Kategorien der Teleologie als der Zwecktätigkeit auch die Kategorie der bloßen Zweckmäßigkeit – besonders was die Interpretation betrifft. Da das Recht ein komplexes Phänomen ist und in alle Schichten des stu- fenförmigen Aufbaues der realen Welt reicht, kommen auch andere 196 Kategorien in Betracht, wie die Zeit, der Raum, die Kausalität, die Wech- selwirkung, die Relation u. a. VI Die Trennung der rechtlich-volitiven und der rechtlich-kognitiven Sphäre; der Positivismus 1. Gewissermaßen aus der transzendentalen Philosophie, beson- ders in der schopenhauerschen Auffassung, stammt auch die scharfe Unterscheidung der erkennenden (kognitiven) und der wollenden 194 Hartmann: l. c., S. 177. 195 Hartmann: l. c., S. 180. 196 Dazu Kubeš: Die Grundfragen der Philosophie des Rechts (1977); derselbe: Die Rechtspflicht (1981). 112","C: Das Werk (volitiven) Sphäre, die genaue Unterscheidung zwischen dem Intellekt und dem Wollen. „Wissenschaft ist nie Wollenschaft“. „Wissenschaft ist stets nur 197 Intellektualität“. Die Wissenschaft muss sich streng und ausschließlich auf das Erkennen beschränken; das ist gerade das Wesen der Wissenschaft (der Theorie). Deswegen will die Reine Rechtslehre ausschließlich Theorie sein, und zwar des positiven Rechtes, bzw. – bei der normativ phänomeno- 198 logischen Richtung – des möglichen Rechtes. Weyr und Kelsen ist die starke Betonung des Positivismus und die Abneigung gegen jedwede Metaphysik gemeinsam. Darin sind sie der neopositivistischen Bewegung (mit Moritz Schlick, Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein an der Spitze) sehr ähnlich. Charakteristisch ist für die Normative Theorie die scharf betonte antiideologische Tendenz. Des- wegen ist sie stark gegen alle Richtungen der naturrechtlichen Doktrin gerichtet. Hierher gehört auch der Relativismus der Normativen Theorie, der für sie bedeutet, dass irgendeine absolut geltende Norm überhaupt undenkbar ist. „Sie kann eine Reihe von erhabenen Grundsätzen, unter ihnen an erster Stelle den Grundsatz einer absoluten, ohne Bedingungen und Voraus- setzungen geltenden Gerechtigkeit, infolge ihres grundsätzlich relativistischen Standpunktes nicht anerkennen, da sie in ihr nur Gegensätze oder Tantolo- gien erblickt“. Das bedeutet aber keinesfalls, dass keiner der normativen 199 Theoretiker seine eigene Weltanschauung und seine eigene moralische Überzeugung haben könnte. Das bedeutet nur so viel, dass man eine sol- che Weltanschauung nicht restlos wissenschaftlich begründen kann und dass alle Versuche um eine solche Begründung schließlich im Misserfolg enden müssen. Dass ein solcher relativistischer Standpunkt mit einer hohen moralischen Veranlagung dieses oder jenes Relativisten vereinbar ist, davon gibt die moralische Höhe solcher Persönlichkeiten, wie Weyr, Kelsen, Sedláček, Engliš u. a. und von den anderen nichtnormativen Theo- retikern z. B. Max Weber oder Gustav Radbruch ohne Zweifel genügenden 197 Kelsen: Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft, Jg. 40 (1916), S. 97 ff.; derselbe: Reine Rechtslehre (1934), S. 16 ff.; Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 27 ff. 198 Schreier: Über die Lehre vom „Möglichen Recht“, Logos, Jg. XV (1926), S. 364 ff. 199 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 18. 113","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Beweis sind. Weyr bemerkt dazu: 200 „Die angeborene Sehnsucht der menschli- chen Natur nach dem Absoluten und nach den absoluten Erkenntnissen einerseits und zugleich die klare Erkenntnis der engen Grenzen, die dem menschlichen Intellekt gesetzt sind, haben etwas Tragisches in sich. Ich bin überzeugt, dass nur die wenigsten Leser dieses Buches sich mehr als der Autor selbst der Tragik bewusst sein werden, die in der klaren Überzeugung besteht, dass jene Grenze, welche jedwede wissenschaftliche Erkenntnis des absoluten Guten, des absoluten Rechtes und der absoluten Gerechtigkeit unmöglich macht, unüberschreitbar ist. Diese Tragik bedrückt ihn viel mehr als die Unpopularität seiner Lehre“. Auch dieser Relativismus beruht bis zu einem gewissen Grad auf Kants Philosophie, denn der Transzendentalismus (Kritizismus) macht aus der Erkenntnis einen ewigen, nie abgeschlossenen Prozess, verlegt die Wahrheit ins Unendliche und erklärt sie im Wesen für ebenso uner- reichbar, wie das der Skeptizismus tut. 201 2. Demgegenüber wurden – im Lauf der Jahrhunderte – immer neue Versuche der rationalen Bewältigung der rechtlich volitiven Sphäre unternommen: von den alten griechischen Philosophen und Rechtsphi- losophen, von den Sophisten, von der griechischen und römischen Stoa, von Althusius bis zu den Naturrechtslehren der Neuzeit und besonders von Immanuel Kant, der oft als Begründer der modernen Naturrechtslehre bezeichnet wird. Die Strömung des Positivismus, ausgelöst von Auguste Comte, 202 stand der Lösung dieser kardinalen Aufgabe äußerst ungünstig gegenüber. Das kann man an Karl Bergbohms Jurisprudenz und Rechtsphilo- sophie (1892) klar erkennen. Aber schon die großartigen Werke von Rudolf Stammler – ich denke dabei vor allem an Die Lehre von dem richtigen Rechte (1902) – zeigten sich als ein ernster Versuch, die rechtlich-volitive Sphäre wissenschaftlich in den Griff zu bekommen. 200 Weyr: l. c., S. 20. 201 Kelsen: Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. (1929), S. 119; Ebenstein: Die recht- sphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938), S. 45. 202 Comte: Cours de philosophie positive (1840–1842); derselbe: Système de politique positive (1851–1854). 114","C: Das Werk Auch der große Erneuerer der Philosophie von Jakob Friedrich Fries, Leonard Nelson, hat einen ähnlichen Versuch der logischen Bewältigung der rechtlich-volitiven Sphäre unternommen – allerdings von einer ande- ren philosophischen Grundposition aus. Nelson lehrt, dass die Behauptung, es sei für die „volitive“ Sphäre – zum Unterschied von der „kogniti- ven“ Sphäre – unmöglich, zu der Erarbeitung einer grundlegenden, festen und inhaltlichen Regel zu kommen, ebenso unwissenschaftlich wie die konträre Behauptung sei. 203 Man muss voll anerkennen, dass die grundlegende Behauptung von Nelson, dass es nicht richtig sei, alle wissenschaftlichen Betrachtungen über die Frage, ob es möglich ist, die volitive Sphäre zu erklären, d. h. ob es möglich ist, in dieser Sphäre zu Erkenntnissen zu gelangen, abzuweisen, begründet ist. 204 Ich meine, dass es sich um den Ausdruck eines „negativen“ Dogmatismus handelt, wenn man von vornherein die Möglichkeit ausschließt, in der volitiven Sphäre zu Erkenntnissen gelangen zu können. Das gilt jedenfalls so lange, als der fehlerlose Beweis durchgeführt werden kann, dass es ausgeschlos- sen ist, die volitive Sphäre mit logischen Hilfsmitteln zu bewältigen. Jaroslav Kallab, der auch der Brünner rechtstheoretischen Schule angehörte, erkannte, 205 dass das, was der Norm den Sinn einer Norm gibt, keinesfalls deren Form, sondern ihr Inhalt ist und dass die richtige Norm ein Ergebnis der Wahl zwischen möglichen Antworten auf die Frage, was sein soll, ist; einer Wahl, bei der es denen, die erkennen wollen, um die Bil- dung allgemein gültiger Erkenntnisse geht. Zur großen Neubelebung des naturrechtlichen Denkens und zugleich zur Überzeugung, dass gewisse Grundprinzipien des richtigen Handelns rational erkannt werden können und dass damit auch die Möglichkeit 203 Nelson: Über das sogenannte Erkenntnisproblem (1908); derselbe: Kritik der praktischen Vernunft (1917); derselbe: Die Rechtswissenschaft ohne Recht (1917); derselbe: System der philo- sophischen Rechtslehre und Politik (1924). 204 Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947), S. 91 ff.; derselbe: Die Logik im rechtlichen Gebiet, öZöR (1976), S. 284; derselbe: Das moderne Naturrecht und der Versuch um die rationale Bewältigung der rechtlich-volitiven Sphäre, Juristische Blätter (1980), S. 57 ff. 205 Kallab: Úvod ve studium metod právnických [Einführung in das Studium der juristischen Methoden] (1921), S. 74 ff.; derselbe: Právní věda a věda o právu [Die Rechtswissenschaft und die Wissenschaft vom Recht], Časopis pro právní a státní vědu (1935), S. 81 ff., 321 ff. 115","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) gegeben ist, die rechtlich-volitive Sphäre logisch zu meistern, ist es beson- ders nach dem Ersten, mehr aber noch nach dem Zweiten Weltkrieg gekommen. Die Lehren von Gustav Radbruch in der letzten Etappe sei- nes wissenschaftlichen Wirkens 206 und von Alfred Verdross 207 sind dabei ungemein wichtig. Verdross bezeichnet 208 als Naturrecht jene dem positiven Rechte vorge- gebenen Grundsätze des zwischenmenschlichen Verhaltens, die rational vermittelt werden können. Diese Grundsätze müssen dem Wesen des Menschen entsprechen. Verdross unterscheidet zwischen den primä- ren, dem allgemeinen Wesen des Menschen angemessenen Grundsätzen des Naturrechtes, und den sekundären, veränderlichen naturrechtlichen Normen, die den konkreten Verhältnissen einer bestimmten Peri- ode entsprechen. 209 „Die Dauerelemente des Rechtes verbinden sich mit 210 seiner Geschichtlichkeit in der Weise, dass jene diese durchdringen.“ „Wenn der Inhalt des natürlichen Rechtsgesetzes aus der zielstrebigen Natur des Men- schen abgeleitet wird, dann können nur jene naturrechtlichen Normen für alle Zeiten und Völker gültig sein, die dem allgemeinen Wesen des Menschen entspre- chen, wie es bei allem geschichtlichen Wandel immer gleichgeblieben ist. Eine solche Wesenheit wird aber allgemein vorausgesetzt, wenn der Mensch als ein mit Vernunft und Willen begabtes, soziales Wesen bezeichnet wird, da in dieser Definition alle Merkmale zusammengefasst werden, die den Menschen aller Zei- 211 ten und Völker von den anderen Lebewesen unterscheiden“. „Da nun aber jeder Mensch, obgleich er ein geschichtliches Wesen ist, eine individuelle und beson- dere Ausprägung der allgemeinen Menschennatur bildet, so muss es sowohl einen unveränderlichen als auch einen veränderlichen Teil des natürlichen 206 Radbruch: Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1959); vgl. Laun: Recht und Sittlichkeit, 3. Aufl. (1924). 207 Verdross: Statisches und dynamisches Naturrecht (1971), S. 92; derselbe: Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1963); derselbe: Two arguments for an empirical foundation of natural-law norms: An examination of Johannes Messners´s and Victor Kraft´s app- roaches, Syracuse Journal of International Law and Commerce (1975), S. 151. 208 Verdross: Statisches und dynamisches Naturrecht (1971), S. 92. 209 Verdross: l. c., S. 92 ff. 210 Verdross: l. c., S. 93. 211 Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1963), S. 273 ff. 116","C: Das Werk 212 Rechtsgesetzes geben“. Die Konkretisierungen der sekundären, verän- derlichen naturrechtlichen Normen können logische Ableitungen aus allgemeinen Prinzipien sein, durch die sie auf einen neuen Sachverhalt angewendet werden. Die Würde des Menschen ist dem positiven Recht vorgegeben. Ist 213 aber die Würde der menschlichen Person jeder Gemeinschaftsordnung vorgegeben, dann ergeben sich daraus fünf allgemeine Forderungen: 1. Jede Gemeinschaftsordnung muss dem Menschen einen Bereich ein- räumen, in dem er als ein freies und selbstverantwortliches Wesen wirken kann. 2. Die Gemeinschaftsordnung muss diesen Bereich sichern und stützen. 3. Der Gemeinschaftsautorität müssen Grenzen gezogen sein. 4. Die Einhaltung dieser Grenzen muss kontrolliert werden können. 5. Die Gehorsamspflicht der Rechtsgenossen gegenüber der Gemein- schaft ist keine absolute. Sie findet an der Würde der menschlichen Person ihre Grenzen. 214 Wichtig ist auch die weitere Feststellung von Verdross, dass die Würde 215 des Menschen zwar kein empirisches Datum ist, doch „nicht nur metaphy- sisch, sondern auch empirisch-rational begründet werden kann“. Zu Recht polemisiert Verdross gegen die Ansichten einzelner Schrift- steller (z. B. E. Topitsch), nach denen die Grundsätze des primären Naturrechtes bloße leer Lehrformeln sind. Dabei wird übersehen – argu- 216 mentiert Verdross – dass die Grundsätze des primären Naturrechts notwendigerweise allgemein formuliert werden müssen, da das Natur- recht kein geschlossenes, sondern ein offenes Rechtsgefüge bildet, das eine dem Orte, der Zeit und dem Kulturstand entsprechende Konkretisierung fordert, die von der sekundären Naturrechtslehre vorbereitet und vom positiven Recht verwirklicht werden soll. 212 Verdross: l. c., S. 274. 213 Verdross: l. c., S. 266. 214 Verdross: Statisches und dynamisches Naturrecht (1971), S. 266. 215 Verdross: l. c., S. 106 ff. 216 Verdross: l. c., S. 107 ff. 117","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Verdross hat mit dieser Grundkonzeption des modernen Naturrechts und des Verhältnisses des Naturrechts zum positiven Recht viel zur ratio- nalen Bewältigung der rechtlich-volitiven Sphäre beigetragen. Das statische (primäre) und das dynamische (sekundäre) Naturrecht im Sinne dieser Grundkonzeption sind – wenn man von der Basis der moder- nen kritischen Ontologie im Sinne Nicolai Hartmanns ausgeht – ein Teil des objektiven Rechtsgeistes (des Rechtsbewusstseins des Volkes der betreffenden Gemeinschaft), und zwar sein fortgeschrittenster Teil, nämlich die (wissenschaftliche) rechtliche Weltanschauung. Die recht- liche Weltanschauung ist ein offenes System rechtlich relevanter Ideen, mit der realen Idee des Rechts an der Spitze, wobei die Offenheit im Sinne 217 Heinrich Rickerts verstanden werden muss. Dieses System stellt sich als ein stufenförmiger Aufbau einzelner Ideen (der Idee der Familie und der Ehe, der Idee der Schuld und der Strafe, der Idee des Vertrages, der Idee der Demokratie, der Idee des Völkerrechts, der Idee der politi- schen Parteien usw.) dar und ist ein Wegweiser zur weiteren Entwicklung des objektiven Rechtsgeistes. Es bedeutet daher nicht nur die Vollendung der wissenschaftlichen Erkenntnis des Rechtes, sondern dient auch dem praktischen Bedürfnis, und zwar in erster Linie der Orientierung jedes Rechtsnormenschöpfers. 218 Der Unterschied zwischen dem Erkennen des objektivierten Rechtsgeis- tes (der Gesetze, Verordnungen usw.) und dem Erkennen des objektiven Rechtsgeistes (dem Rechtsbewusstsein des Volkes einschließlich der recht- lichen Weltanschauung) ist nur quantitativ, nicht qualitativ. Der erste Fehler des Rechtspositivismus mit seiner Eliminierung der rechtlich-volitiven Sphäre aus dem Bereich jeder Wissenschaft besteht in der Auffassung der Wissenschaft selbst als einem System von absolut wahren und richtigen, auf ewige Geltung Anspruch erhe- benden Erkenntnissen. Eben das ist nicht richtig. Für die Wissenschaft 217 Rickert: System der Philosophie I (1921), S. 348 ff.; derselbe: Grundprobleme der Philosophie (1934), S. 184. 218 Kubeš: Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft. In: ARSP, Beiheft, Neue Folge Nr. 11 (A Selection of papers presented to the Extraordinary World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy held in Sydney and Canberra, Australia, on 14. – 21. 8. 1977) (1979), S. 21 ff. 118","C: Das Werk als solche ist etwas anderes kennzeichnend, nämlich dass es sich um eine Einheit von Erkenntnissen mit fortwährender Tendenz zur Idee und zur Normidee der Wahrheit und Richtigkeit handelt. Der zweite Fehler liegt in der Unkenntnis des objektiven Geistes (Rechtsgeistes), besonders seiner Sphäre, die die abgeleitete Normativität aufweist. Die ganze Ent- wicklung in dieser Richtung von Hegel bis Hartmann ist unbekannt oder wird ignoriert. Sonst würde man wissen, dass der objektive Geist (Rechts- geist) mit seiner abgeleiteten Normativität ebenso real und, wenn auch mit größeren Schwierigkeiten, erkennbar ist, wie die niedrigeren Schichten des stufenförmigen Aufbaus der realen Welt (die anorganische, organische und seelische Schicht). 3. Aber auch im Rahmen der Schule der Reinen Rechtslehre selbst kann man einen sehr ernsthaften Ansatz zur Überwindung dieser vermeintlich abso- luten Kluft zwischen der rechtlich-kognitiven und der rechtlich-volitiven Sphäre beobachten. Leider ist dieser Versuch fast in Vergessenheit geraten. 219 Ich meine Fritz Schreiers Lehre vom möglichen Recht. Diese Lehre ist eine der fruchtbarsten Konstruktionen im Rahmen der Schule der Reinen Rechtslehre. Schreier war (wie Felix Kaufmann) ein phänomenologisch beeinflusster Anhänger der Schule der Reinen Rechtslehre. Dieser Idee des möglichen Rechts liegt eine interessante philosophische Betrachtung zugrunde. 220 In kantscher Terminologie lautet die Frage: Wie ist Recht überhaupt möglich? In den Postulaten des empirischen Denkens lautet der zutage tretende Gedanke Kants: Möglich ist das und nur das, was die Fähigkeit besitzt, in die Realität Eingang zu finden, d. h. sinnlich wahr- nehmbar zu werden. Möglich ist für Kant dasjenige, was wirklich werden kann. Schreier bevorzugt aber den Begriff der Möglichkeit von Leibniz, der unsere wirkliche Welt nur als einen Spezialfall der möglichen Welten 219 Z. B. Schreier: Über die Lehre vom möglichen Recht, Logos, Jg. XV (1926), S. 366-370; vgl. auch weitere Arbeiten von Schreier, besonders Logik und Rechtswissenschaft (1922), Theorie der Rechtserfahrung oder Reine Rechtslehre (1923), Kriterien des Rechts (1924), Methodenproblem der Sozialwissenschaften (1932); siehe auch Kelsen: Allgemeine Staatslehre (1925), S. 44 ff.; Ebenstein: l. c., S. 27 ff.; Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947), S. 128. 220 Z. B. Schreier: Über die Lehre vom möglichen Recht, l. c., S. 366-370. 119","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) ansieht. Diesen Begriff der Möglichkeit hat Husserl wiederaufgenommen: Das Wirkliche ist etwas, das auch anders sein könnte, es ist das Zufällige; immer können wir gedanklich eine bestimmte Raum- und Zeitstelle auch anders ausfüllen. Aber in allem Wechsel bleiben Bestimmungen erhal- ten, die den Gegenstand erst zu einem so bestimmten machen; sie setzen jedem Versuch, sie anders zu denken, unüberwindlichen Widerstand ent- gegen. Diese Bestimmungen machen das Wesen des Gegenstandes aus, sie sind notwendige Bestimmungen. Alles aber, was mit diesen Bestim- mungen übereinstimmt, ist ein möglicher Gegenstand dieser bestimmten Art. So ist das Notwendige zugleich das Mögliche; die dem Gegenstande notwendig zukommenden Bestimmungen sind zugleich die Grenzen sei- ner Möglichkeit. Die Wirklichkeit realisiert nur eine der Möglichkeiten, woraus sich ergibt, dass die Erkenntnis der Möglichkeiten jener der Wirk- lichkeiten vorangeht. Schreier formuliert diesen Gedanken scharf: Für Kant ist das Wirkliche, für Husserl das Notwendige das Mögliche. Die Ein- sicht in das Wesen und damit in die Möglichkeiten eines Gegenstandes wird derart gewonnen, dass man sich frei phantasierend Gegenständlich- keiten einer bestimmten Art vorführt und sie variiert. Dieser Weg führt zur Erkenntnis, ohne dass dabei auch nur ein Blick auf die Erfahrung fal- len würde; es handelt sich nach Schreier um rein apriorisches Denken. Dennoch ist dieses von Fesseln der Wirklichkeit befreite Denken nicht grenzenlos im Fortgange. An irgendeiner Stelle trifft man auf Widerstand. Überschreitet man die Grenze, so haben die neuen Gegenstände keine „Ähnlichkeit“ mehr mit den früheren; man befindet sich in einer anderen Region, unter anderen Wesen. Das gilt z. B. für räumliche Gegenstände, es gilt aber ebenso, auch dann, wenn wir zur Erkenntnis des Wesens 221 des Rechtes gelangen wollen. Man phantasiert Rechtsnormen, ohne dass man sich dabei an die historisch vorhandenen Rechtsnormen halten müsste. Aber auch hier stößt man zuletzt an Schranken, jenseits welcher ein Gebiet anderer Normen, anderer Gegenstände, als der Rechtsnormen, beginnt. Ja, die Ähnlichkeit mit den räumlichen Gegenständen und ihrer Erkenntnis geht sogar noch weiter. Auch die einzelnen Rechtsnormen sind 221 Z. B. Schreier: l. c.; derselbe: Grundbegriffe und Grundformen des Rechts (1924). 120","C: Das Werk ergänzungsbedürftig und weisen Leerstellen auf, die innerhalb eines gewis- sen Spielraumen, aber nicht nach freier Willkür auszufüllen sind. Man kann folgendes Beispiel anführen: Eine Rechtsnorm gestatte die Zession von Forderungen, d. h. den Schuldner zu verpflichten, über Aufforderung seines Gläubigers an eine andere Person zu leisten, an die der alte Gläubiger seine Forderung übertragen hat. Damit eröffnet sich eine Leerstelle; man ist gezwungen zu fragen: Was geschieht, wenn der Schuldner nicht leis- tet? Wie gestalten sich dann die Beziehungen zwischen altem und neuem Gläubiger? Haftet der alte Gläubiger dem neuen für die Einbringlichkeit der Forderung und in welchem Maße? Es könnte sein, dass der alte Gläu- biger nur bis zur Höhe der Zessionsvaluta, des Entgelts für die Abtretung der Forderung, oder bis zur vollen Höhe der Forderung oder je nach den zwischen ihnen bestehenden Rechtsverhältnissen verschieden haftet, usw. Dadurch ist der Spielraum umschrieben. Vor allem aber ist nach Schreier jede Rechtsnorm insofern ergänzungsbedürftig, als sie einer Sanktion bedarf, einer Hilfsnorm für den Fall ihrer Nichtbefolgung; denn es gibt kein sanktionsloses Recht. So entsteht das System der Lehre vom Wesen des Rechts im Sinne Schreiers. In diesem Sinne ist die einzelne, historisch gegebene positive Rechtsordnung nur eine der möglichen Regelungen und verleiht ihr den Charakter der Positivität. Dass eine Rechtsnorm positiv wird, ist in genau demselben Sinn Zufall, wie alles Wirkliche zufällig ist. Wie wir eine Raumstelle durch einen anderen Körper ausgefüllt denken können, können wir uns auch denken, dass statt der zu bestimmter Zeit und in einem bestimmten Gebiet geltenden Rechtsnorm eine andere gilt. Mit Hilfe der Lehre vom möglichen Recht wird dann der für den Juri- sten so bedeutungsvolle Gegensatz zwischen lex lata (geltendes Recht) und lex ferenda (was geltendes Recht werden soll) relativiert und rückt, wie Schreier betont, nun in ein neues Licht. Vom Standpunkt der älteren Theo- rie erscheint der Ausdruck lex ferenda als contradictio in adiecto. Ist Recht nur geltendes, d. i. positives Recht, dann ist etwas, das erst zum positi- ven Recht erhoben werden soll, überhaupt kein Recht, sondern höchstens Gegenstand der Politik. Vom Standpunkt der Möglichkeitsbetrachtung dagegen erscheinen beide leges auf gleicher Ebene, die lex lata streift ihren 121","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) zufälligen Positivitätscharakter ab, nur ihr Wesensinhalt tritt neben die lex ferenda und bildet wie diese eine bloße Rechtsmöglichkeit; erst so erschei- nen beide leges gleichberechtigt und einheitlicher Untersuchung und Vergleichung fähig. Schon damit ist die Grundlage einer wissenschaftli- chen Politik geschaffen. Mit Hilfe dieser neuen Denktechnik muss sich – wie Schreier wei- ter ausführt – ein Wandel in der Begriffsbildung vollziehen. Man bildete bisher die Begriffe auf die Wirklichkeit hin, klammerte sie an die Wirk- lichkeit an und suchte ihr mit den gebildeten Typenbegriffen möglichst nahe zu kommen. Wenn neue soziale Formen entstanden sind, so mussten sich auch die Begriffe dieser Lehre ändern oder mussten neue Begriffe von Typen geschaffen werden. Diese alte Lehre war dazu verurteilt, ewig der Wirklichkeit nachzuhinken, ihr kann man mit Recht nachsagen, dass sie die Fülle des Lebens nicht zu erfassen vermag. In diesen Typenbegrif- fen werden Eigenschaften zusammengefasst, die man erfahrungsmäßig verbunden findet; da diese Lehre keine Veranlassung hat, an bloße Mög- lichkeiten zu denken, muss es ihr entgehen, dass die Eigenschaften auch gesondert erscheinen können. Geht man aber von der Wirklichkeits- zur Möglichkeitsforschung über, so verlieren die Typen ihre Starrheit und man erkennt, dass die Typen nur willkürlich herausgerissene Punkte einer kontinuierli- chen Reihe sind, die die Gesamtheit der Möglichkeiten enthält. Die Reihe wird von den „Idealtypen“ begrenzt, dazwischen liegen die „Mischtypen“, die unmerklich ineinander übergehen. Sie hat gegenüber der zufälligen Ansammlung von Wirklichkeiten den großen Vorzug der Vollständigkeit. Hat man in richtiger apriorischer Untersuchung die Idealtypen erfasst, so gibt es keine soziale Erscheinung mehr, die nicht an irgendeiner Stelle der Reihe ihren Platz findet, die neue soziale Erscheinung zwingt nicht mehr zur Umbildung der Begriffe. Die Topik ist geschaffen. Wenn man will, sagt Schreier, mag man darin die Ersetzung von „Substanzbegrif- 222 fen“ durch „Funktionsbegriffe“ erblicken. Schreier sagt ausdrücklich, 222 Vgl. Schreier: Über die Lehre vom Möglichen Recht, l. c., und Schreiers Darstellung der Lehre Kelsens. Die Wiener rechtsphilosophische Schule, Logos, Jg. XI (1923), S. 309 ff. 122","C: Das Werk dass die Allgemeine Staatslehre Hans Kelsens einen außerordentlichen, großen Fortschritt in der Forschung nach dem Wesen und den Möglichkei- ten des Staates bedeutet. Sie ist die erste echte apriorische Untersuchung des Staates als einer Rechtserscheinung. Diese Arbeit trachtet systema- tisch alle Probleme der Staatslehre von den grundlegenden Fragen bis zu den letzten Einzelheiten zu erfassen. Es zeigt sich hierbei die große Fruchtbarkeit der neuen Methode; die scheinbar so schwierigen Probleme der Staatslehre lösen sich auf die einfachste Weise und der Reichtum an Formen und Möglichkeiten staatlicher Gestaltung wird aufgedeckt. Kel- sen selbst bezeichnet, wie Schreier hervorhebt, den möglichen Staat, als den Gegenstand der allgemeinen Staatslehre und verfolgt die Abwandlun- gen dieses Gegenstandes. Auch was die Reihe der Rechtsstufen betrifft, hat die ältere Theorie Gesetz und Rechtsgeschäft stark kontrastiert, die Reine Rechtslehre aber, diesmal mit Merkl an der Spitze, hat durch ihre Stu- fenlehre gezeigt, dass dieser Gegensatz ein bloß gradueller ist und dass von der Verfassung ein Stufenbau über Gesetz, Verordnung usw. bis zum Rechtsgeschäft reicht. Wenn man tiefer in diese Lehre vom Möglichen Recht eindringt, so muss man feststellen, dass sie diese Lehre eine ungemein wichtige Hilfe für die Arbeit jedes Normschöpfers sein kann. So z. B. habe ich, als wir an dem Entwurf der neuen Verfassung für die befreite tschechoslowaki- sche Republik im Jahre 1947 arbeiteten, ausdrücklich auf diese Lehre vom möglichen Recht hingewiesen und beantragt, zwei konträre Idealtypen einer solchen Verfassung und zwischen ihnen einige Mischtypen, die mit Rücksicht auf die politische Verteilung der Kräfte praktisch erschienen, zu schaffen. Es handelt sich darum, die Topik aller möglichen Rechtsfiguren anzu- führen. Der Gesetzgeber kann dann diese oder jene Figur wählen, aber er kann zu keiner eigentlich unvorstellbaren Figur greifen, die außerhalb der Figuren wäre, über die uns die Rechtstheorie als die Topik aller mög- lichen Rechtsfiguren belehrt. Schreier knüpft hier an die sehr fruchtbare Lehre über die sog. Ideal- und Mischtypen an, deren beide entgegengesetzte Enden die beiden entgegengesetzten äußersten Lösungsmöglichkeiten, 123","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) die. Sog. Idealtypen, darstellen. Zwischen diesen Idealtypen liegt dann eine Menge einzelner Kompromissmöglichkeiten von der äußersten Rech- ten bis zur äußersten Linken, eine Menge einzelner Mischtypen. Und so ist es Aufgabe der Rechtstheorie, bei jedem Rechtsinstitut diese Reihe einzelner möglicher Figuren von dem äußersten Idealtyp an der „rechten“ Seite über die unendliche Menge von Mischtypen bis zum äußersten Idealtyp an der „linken“ Seite phänomenologisch herauszuprä- parieren. Dadurch bildet die Rechtstheorie freilich eine ungewöhnlich geeignete Grundlage für jede gesetzgeberische Arbeit. Der Gesetzgeber wird nämlich so alle Lösungsmöglichkeiten schon vorher in der Rechts- theorie vorfinden, und seine Tätigkeit begrenzt sich dann rein auf die Erwägung und die „volitive“ Entscheidung, welches der Ideal- oder Mischtypen am besten für die gegebene Situation passt. VII Die Rolle der Logik im rechtlichen Gebiet 1. Die Logik als Wissenschaft von den formalen Bedingungen des mensch- lichen Denkens und Erkennens fragt, wie man richtig urteilen kann und wie man seine Behauptungen beweist; sie studiert die Form der Gedan- ken und setzt die Voraussetzungen fest, unter denen man seine 223 Gedanken bzw. Begriffe in ein System einreihen kann. Die Struk- tur des richtigen Denkens, die extensionalen Gesetze der Verknüpfung von Aussagen, der Bildung und Verknüpfung von Begriffen in Gestalt von einstelligen und zwei- oder mehrstelligen Prädikaten (Relationen), die Lehre von den Schlüssen, von der deduktiven Methode und der Defi- nition, die Axiomatisierung der wissenschaftlichen Theorie, die Frage 224 eines Systems selbst – das alles steht im Vordergrund ihres Interesses als einer Theorie der extensionalen logischen Konstanten und Prädikate beliebiger Stellenzahl und Stufe und ihrer philosophischen Problematik. 223 Dazu Kubeš: Die Logik im rechtlichen Gebiet, öZöR, Jg. 27 (1976), S. 271-286. 224 Klaus: Logik. In: Klaus-Buhr (Hg.): Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, 10. Aufl. (1974), S. 720. 124","C: Das Werk Es ist auf den ersten Blick klar, was für eine bedeutende Rolle die Logik in der rechtlichen Sphäre überhaupt spielt. Das haben schon die römischen Juristen, die Denker des Mittelalters und besonders die Denker des 19. und des 20. Jahrhunderts (z. B. Adolf 225 227 226 Trendelenburg, Emil Lask, Julius Moór ) erkannt und nachdrücklich 228 betont. Sehr klar hat es der genialste Neokantianer Emil Lask ausgedrückt: „Wenn man von der Wissenschaft selbst absieht – gibt es keine Kulturerschei- nung, die sich als begriffsbildender Faktor auch nur annähernd mit dem Recht vergleichen ließe“. In meiner Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts (1947) habe ich gesagt: 229 „Abschließend kann man zur Normativen Theorie ungefähr folgendes sagen: Es ist unbestreitbar, dass diese Lehre – wie bisher keine andere – die logischen Probleme, vor die die Rechtswissenschaft gestellt ist, bewältigt hat. Als Rechts- logik ist die Normative Theorie unwiderlegbar. Die noetische Problematik wurde von der Normativen Theorie für das Recht ebenfalls in verdienstvoller Weise gelöst, auch wenn hier bei weitem noch nicht das letzte Wort gesprochen wurde“. 2. Es ist daher etwas überraschend, dass Kelsen behauptet, 230 dass das Recht (die Rechtsordnung), also „Gesetzbeschlüsse, richterliche Urteile, Verwaltungsurteile etc.“, „aus welchem Material die Rechtswissenschaft erst ihre Urteile, die Rechtssätze, bildet“, „ein alogisches“ Material sei. Kel- 231 sen lehrt: „Unterscheidet man zwischen Recht und Rechtswissenschaft, so wie man zwischen Natur und Naturwissenschaft unterscheidet, dann ist das Recht … – ebenso wie die Natur, sofern man sie dabei nicht als Gegenstand 225 Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 2. Aufl. (1868), S. 178. 226 Lask: Rechtsphilosophie (1905), S. 35. 227 Moór: Das Logische im Recht, Revue internationale de la Thèorie du Droit, Jg. 11 (1927/1928), S. 157 ff. 228 Lask: l. c., S. 35. 229 Kubeš: l. c., S. 62. 230 Kelsen: Rechtswissenschaft und Recht, Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der „Rechtsdogmatik“ (1922), S. 92. 231 Kelsen: Norm und Logik, Forum (1965), S. 421 ff., 495 ff.; Neues Forum (1967), S. 39 ff.; Neues Forum (1968), S. 333 ff.; derselbe: Derogation. In: Essays in Legal and Moral Philosophy (1973), S. 260 ff.; derselbe: Die allgemeine Theorie der Normen (1979). 125","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) einer Erkenntnis im Auge hat – ein Alogisches“. Diesem Standpunkt behält Kelsen in seiner weiteren Entwicklung und vielleicht noch mit schärfe- rer Ausprägung bei. Nach Kelsens Auffassung bildet erst die Rechtswissenschaft aus diesem „alogischen Material“ die hypothetischen Urteile des Rechts, die Rechts- sätze, die Rechtsnormen. „Als alogisches Material werden die Gesetze, Urteile, Verwaltungsakte usw. in die Urteile der Rechtssätze aufgenommen und dadurch in die logische Sphäre erhoben. Der Fundamentalirrtum von Sander besteht darin, dass er glaubte, in diesem Material Urteile zu finden“. 232 Kelsens Behauptung, dass das Recht etwas Alogisches sei, ist nicht richtig. Die Parallele zwischen dem Recht und der Rechtswissenschaft auf der einen Seite und der Natur und der Naturwissenschaft auf der anderen 233 Seite ist – wie schon Julius Moór erkannt hat – falsch. Zwischen dem Recht und der Natur ist ein fundamentaler Unterschied. Die Natur gehört in die niedrigsten Schichten des Stufenbaus der realen Welt (in die anorganische und organische Schicht), wo besonders die Kate- gorien der Kausalwirkung und der Wechselwirkung dominant und die Kategorien der Teleologie (der Zwecktätigkeit) und der Normativität vollkommen fremd sind. Das Recht – im Gegenteil – gehört in erster Linie in die oberste Schicht der realen Welt, in die Schicht des geistigen Seins mit den Kate- gorien der Teleologie und der Normativität. Das Recht ist ein Produkt der geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklung und ist vor allem ein ungemein bedeutender Teil des geistigen Seins – ähnlich wie die Rechtswissenschaften und die Wissenschaft als solche. Die Natur (im Unterschied von den Naturwissenschaften) ist ganz und gar alogisch. Das Recht aber ist schon als solches etwas Geistiges; das bedeutet, dass man schon im Recht selbst mächtige logische Spuren des Geistes findet. In einem Gesetz oder einem Urteil ist so viel logische Arbeit, dass man schon beim ersten Blick die Unrichtigkeit der Behaup- tung von der alogischen Natur des Rechts sehen kann. 232 Kelsen: Rechtswissenschaft und Recht (1922), S. 93. 233 Moór: l. c., S. 183-185. 126","C: Das Werk Es ist nicht erst die Rechtswissenschaft, die den logischen Zusammen- hang eines Rechtssystems schaft oder erst aus dem „alogischen“ Recht die „logischen“ Urteile bildet; schon die großen Kodexe haben ihr eigenes logisches System. Die dogmatische Rechtswissenschaft kann dieses Mate- rial von Normen beleuchten, nach eigenen Prinzipien auslegen und in ein anderes System einreihen. Die Logik spielt eine bedeutende Rolle: 1. schon in der Rechtsordnung als einem System von Rechtsnormen, 2. in den Rechtswissenschaften, wo die Aufgabe der Logik, wie überhaupt in jeder Wissenschaft, vor- herrscht, und 3. in der Anwendung des Rechts. Bei der Behandlung der Rolle des logischen im rechtlichen Gebiet muss man aber noch weiter und tiefer gehen, als es Julius Moór in sei- ner interessanten Studie tat. Man darf nämlich nicht beim Recht (bei der Rechtsordnung) als dem objektivierten Rechtsgeist stehenbleiben, sondern man muss zu der Grundlage dieses Rechts, d. h. zum objektiven Rechtsgeist (zum Rechtsbewusstsein des Volkes einschließlich der recht- lichen Weltanschauung) fortschreiten. Hier überall handelt es sich nicht um etwas Alogisches, sondern um ein logisches Material. In dem Rechtsbewusstsein des Volkes als einem bedeutenden Teil des objektiven Rechtsgeistes spielt das logische Moment eine klei- nere Rolle als in der Rechtsordnung, während die Rolle des Logischen in der wissenschaftlichen rechtlichen Weltanschauung, die von den besten rechtsphilosophischen Denkern der Zeit als ein Stufenbau von einzelnen realen, rechtlich relevanten Ideen gebildet wird und die viel progressiver als das Rechtsbewusstsein ist, so dominant und so groß wie in den Rechts- wissenschaften ist. Die rechtliche Weltanschauung ist nämlich keine freie „Rhapsodie“, sondern ein Ergebnis strenger wissenschaftlicher Arbeit; die Philosophie und die Rechtsphilosophie sind Wissenschaften per eminentiam, und die Weltanschauung, bzw. die rechtliche Weltanschau- ung sind Teile der Philosophie bzw. der Rechtsphilosophie. 127","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Das System, als das logisch zusammenhängende Ganze einer Vielheit 234 von Urteilen, bildet einen der Hauptbegriffe der Logik. Das gilt auch für den Gesetzgeber. Der Begriff der logischen Einheit des Rechtssystems entscheidet über die Frage, was der Gesetzgeber überhaupt als ein Gesetz feststellen kann. Die Macht des Gesetzgebers hat ihre strengen logischen Grenzen. Die Rechtsordnung ist ein hierarchischer Stufenbau von Nor- men besonderer Qualität. Die Rechtsordnung ist ein System, eine Einheit im logischen Sinn. Nur die Norm ist eine gültige Rechtsnorm, die sich im Delegationsrahmen der betreffenden höheren Rechtsnorm (Rechts- normen) der Rechtsordnung bewegt. Auch in dieser Hinsicht kann man sehen, dass es sich beim Rechtssystem um eine logische Einheit handelt. Wenn man die Problematik der Logik, des Logischen im Recht, studiert, so muss man die Aufmerksamkeit dem Recht als einem Phänomen des gei- stigen Seins, und zwar direkt des objektivierten Geistes, wenn man nur an die Rechtsordnung denkt, widmen. In diesem Sinne erscheint die Norm als ein Gedanke und die Rechtsordnung als ein System von bestimmten 235 Gedanken. Wenn das Rechtssystem ein System von Gedanken ist, hat jede Rechtsnorm einen gedanklichen Inhalt, einen logischen Sinn. Schon darin zeigt sich die Bedeutung des Logischen im Recht. Dieser logische Inhalt der Rechtsnorm hat wieder seine logische Struktur, die in der Regel, aber nicht ausnahmslos, wie Heinrich Rickert und Julius Moór meinen, 237 236 die Form des hypothetischen Urteils aufweist. Die einzelne Rechtsnorm tritt also in der logischen Form des Urteils unter der Gesamtheit der Rechts- normen in der Einheit des logischen Systems in Erscheinung. Auch die weitere Feststellung von Moór, 238 dass der Inhalt der Rechts- normen im Wege der Abstraktion und der Generalisierung zustande komme, ist zweifellos richtig. In den hypothetischen Urteilen der Rechts- normen werden allgemeine Begriffe verbunden. Der allgemeine, abstrakte Begriff ist das Instrument, das die enorme Entfernung zwischen dem 234 Moór: l. c., S. 162 f.; Kubeš: Nemožnost plnění a právní norma [Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm] (1938), S. 219 ff. 235 Moór: l. c., S. 159 ff. 236 Rickert: Zur Lehre von der Definition, 2. Aufl. (1915), S. 39. 237 Moór: l. c., S. 160 ff. 238 Moór: l. c., S. 175. 128","C: Das Werk 239 Gesetzgeber und dem einzelnen konkreten Fall überbrückt. Nach Trendelenburg 240 sind „die richtigen Definitionen die logischen Hüter aller Rechtssicherheit, die Grenzwächter der Rechtsbestimmungen“. Mit Hilfe der strengen Rechtsbegriffe bemächtigt sich das Recht der Fülle des gesellschaftlichen Lebens und meistert dieses Leben. Mit Recht stellt Rickert fest: „soll (der) … Wille des Gesetzgebers in Erfüllung 241 gehen, dann ist es offenbar notwendig, dass man die in den Rechtssätzen ver- wendeten Begriffe genau und scharf definiert“. „Die Rechtssätze … müssen aus Begriffen bestehen, welche eindeutig auf die Erscheinungen der Wirklichkeit bezogen werden können“. 242 Die Rechtsordnung benützt die verschiedensten logischen Hilfsmit- tel und Formulierungen (z. B. die Konstruktion der juristischen Person, die juristischen „Fiktionen“ usw.), um am zweckmäßigsten die mannigfa- che Fülle des Lebens zu bewältigen. „Die klare und logische Ausdrucksweise des Norminhaltes, die feste Konsequenz im logischen Aufbau des Rechtssystems, scharfe und bestimmte Rechtsbegriffe sowie geglückte juristische Konstruktio- nen können oft viel mehr zur Verwirklichung des Rechtssystems beitragen als 243 die Macht der Bajonette“. „La logique peut parfois aider à organiser la vie…“ 244 Die Bedeutung der Logik wird besonders klar hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, dass das Recht als die Rechtsordnung der objektivierte Rechtsgeist ist, und dass die sog. Rechtsschöpfung, besonders die Gesetz- gebung, keine rein schöpferische Tätigkeit ist, sondern sich in erster Linie als eine Findung, Feststellung und Objektivierung dessen darstellt, was Rechtsbewusstsein des Volkes, objektiver Rechtsgeist ist. Der sog. „Schöp- fer des Rechts“, vor allem der Gesetzgeber, stellt den objektiven Rechtsgeist fest, erkennt den abgeleiteten normativen Inhalt und ordnet den festge- stellten Inhalt mit logischen Mitteln in eine logische Einheit, in ein System der Rechtsordnung als objektivierten Rechtsgeist ein. 239 Ledig: Der Begriff als Instrument der Rechtspflege, Kant-Studien (1927), S. 325; Moór: l. c., S. 175. 240 Trendelenburg: Naturrecht auf dem Grunde der Ethik, 2. Aufl. (1868), S. 178. 241 Rickert: l. c., S. 39; vgl. Moór: l. c., S. 175. 242 Rickert: l. c., S. 40. 243 Moór: l. c., S. 181. 244 Gény: Science et technique en droit privé positif (1914), S. 149. 129","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 3. Während Kelsen unter dem starken Einfluss der transzendentalen Methode in der Ausprägung von Hermann Cohen, deren Kern die Sponta- neität der Vernunft ist, den fundamentalen Unterschied zwischen Natur und Recht nicht sah und daher das Recht als etwas Alogisches betrachtete, war Weyr vorsichtiger. Vielleicht steckte der Grund dafür auch darin, dass Weyr den Grundgedanken der Spontaneität der Vernunft nicht voll akzep- tierte. Weyr hat noch, als er sein großes Werk über die Theorie des Rechts schrieb (also im Jahre 1936), nicht noch an der Logik im Recht gezweifelt. Damals war für Weyr auch die Norm ein logisches Urteil. Später aber – nach längerem Zögern – löst Weyr, angeregt von Karel Engliš, die strittige Frage des Verhältnisses von Norm und logischem Urteil in dem Sinne, dass die Norm als Ausdruck eines Sollens kein Urteil im Sinne der allgemeinen Logik sei. In seiner letzten Schrift Úvod do studia právnického [Einführung in das juristische Studium] aus dem Jahre 1946, entscheidet sich Weyr für die meiner Meinung nach unrichtige Stellungnahme, dass eine Norm kein logisches Urteil ist. 245 Das aber ist eine nicht unbedeutende Annäherung Weyrs an die Auf- fassung Kelsens, dass das Recht ein alogisches Material darstellt, obzwar Weyr diesen Standpunkt auch in seinem letzten Buch „Einführung“ nicht vertreten hat. VIII Pflicht und Norm 1. Man kann nicht daran zweifeln, dass bei der Entstehung der Norma- tiven Theorie ihre zentralen Begriffe jene der Pflicht (des Sollens) und der Norm (des Rechtssatzes) waren – bei Kelsen wie bei Weyr. Gerade das waren die wichtigsten Wesensbegriffe überhaupt. Weyr blieb dieser Auffassung in seinem ganzen großen Werk streng treu. Bei Kelsen kann man aber eine interessante Entwicklung beobachten. 2. Zuerst kann man das an der Entwicklung der Konstruktion der sog. Doppelnorm beobachten. Erstmals findet man die Doppelnorm 245 Weyr: l. c., S. 16 ff. 130","C: Das Werk in den Hauptproblemen der Staatsrechtslehre (1911). Dort beinhaltet sie zwei Pflichten, von denen die zweite, nämlich die Pflicht des Staates zu exe- quieren oder zu strafen, von der Erfüllung der ersten, nämlich das Recht zu befolgen, abhängig ist. In seiner Abhandlung Unrecht und Unrechtsfolge im Völkerrecht stellt 246 Kelsen jedoch fest, „dass die erste Pflicht – von einem rechtsimmanenten Standpunkt aus betrachtet – ganz überflüssig ist“. 247 3. In seiner Theorie des Rechts (1936) meint Weyr, wenn die Norm „Du sollst nicht stehlen!“ – an sich betrachtet – keine Rechtsnorm ist, dann ist sie ein bloßer Tatbestand, und es kann von einer Rechtspflicht und von einem Pflichtsubjekt keine Rede sein. Kelsen selbst hat daraus den Schluss gezogen, dass nur der Staat ein Pflichtsubjekt ist. Da aber – nach der späteren Auffassung Kelsens – nur der Mensch Rechtspflichten haben kann, und da nur die primäre Norm, die die Sanktion als Pflicht der Staats- organe festsetzt eine echte Rechtsnorm ist, kann nach Kelsen der Mensch nur dann ein Pflichtsubjekt sein, wenn er als Staatsorgan handelt. Wenn aber nur die sanktionierte Norm eine Rechtsnorm sein kann, und die Sank- tion gegen Verletzungen der Rechtspflichten der Staatsorgane im sog. Disziplinarrecht besteht, dann muss man weiter fragen, ob es eine Sank- tion gegen die Verletzung dieser Disziplinarvorschriften gibt. Man steht daher – wie Weyr richtig argumentiert – vor einem Regress in Richtung zu weiteren sanktionierten Normen, gelangt aber letzten Endes zu einer Norm, die an sich nicht mehr sanktioniert ist, d. h. für deren Verletzung keine Exekution oder Strafe festgesetzt ist. Infolgedessen wären aber alle „sanktionierten“ Normen, die von der in der Reihe letzten, nicht sank- tionierten Norm abhängen, keine Rechtsnormen, und der Zentralbegriff allen Rechtes und aller normativen Erkenntnis, die Pflicht, wäre ohne Grundlage. 246 Kelsen: l. c., ZÖR, Jg. XII (1932); vgl. auch Kelsen: Allgemeine Staatslehre (1925); derselbe: Reine Rechtslehre (1934). Es ist interessant, dass diese Lehre von der Doppelnorm schon von Samuel Pufendorf entwickelt wurde. 247 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 352 ff. 131","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Schon damals stellte Weyr fest, dass die ganze Entwicklung der Rei- nen Rechtslehre im Sinne Kelsens eine Tendenz zur wahrhaft tragischen Eliminierung des Begriffes der Pflicht zeigt. Weyr sagt ausdrücklich: 248 „Kelsens Lehre ging inzwischen – im Vergleich zur Lehre Kants – den umge- kehrten Weg: ausgehend von der dualistischen Noetik nähert sie sich mit ihren späteren Ergebnissen … der monistischen Konzeption. Dabei wird gleichzeitig aus der ursprünglichen Normativen Theorie als einer transzendentalen Erkennt- nislehre immer mehr eine Rechtslehre, eine Normologie“. Diese Eliminierung des Begriffs der Pflicht finde ich theoretisch und praktisch unrichtig; besonders in einer Zeit, in der alle Werte erschüttert zu werden schei- nen, in einer Zeit, in der nur das Recht und die Rechtswissenschaften, nur die grundsätzliche Erfassung der Idee des Rechtes und ihres zentralsten Wesensbegriffes, d. i. der Pflicht, die Menschheit von einer Katastrophe zu retten imstande ist. 249 4. Was die Auffassung der Norm (Rechtsnorm) selbst betrifft, entsteht die grundlegende Frage: Ist die Norm ein Imperativ? Ein Imperativ ist ein Akt, der in der Form einer Anordnung oder eines Befehls das Vorhandensein eines Willens beweist, der sich an einen anderen Willen wendet und ihn dazu anhält, die von jenem gewünschte Handlung zu vollbringen. 250 Imperativisch ist der Sinn bestimmter Akte, deren Bestand unabhängig vom Willen oder von der Gesamtheit des Wil- lens jener Personen ist, die ihn hervorgebracht haben, denn der Wille jener Personen hat für das Fortbestehen keine Bedeutung mehr. Derart sind die Vorschriften. Der moderne Rechtsimperativismus ist die Folge und der Ausdruck des Voluntarismus. Klassische Vertreter dieser imperativistischen Lehre 251 252 sind besonders A. Thon, aber auch K. Olivecrona. 253 248 Weyr: l. c., S. 357 ff.; vgl. Kubeš: Die Rechtspflicht (1981), S. 2 ff. 249 Kubeš: Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft, ARSP, Beiheft Neue Folge (1979), S. 1 ff. 250 Dazu z. B. Lacambra: Rechtsphilosophie (1965), S. 351 ff. 251 Legaz: l. c., S. 356. 252 Thon: Rechtsnorm und subjektives Recht. Untersuchungen zur allgemeinen Rechtslehre (1878). 253 Olivecrona: Der Imperativ der Gesetze (1942), S. 24 ff.; vgl. Legaz: l. c., S. 357. 132","C: Das Werk Sehr scharf hat den Imperativismus gerade Kelsen (und auch Weyr) angegriffen, und zwar in seinem klassischen Werk Hauptprobleme der Staatsrechtslehre. Nach seiner Auffassung ist die Norm kein Impera- 254 tiv, sondern ein hypothetisches Urteil, das annimmt, dass eine bestimmte Handlung sein soll, und die Tatsache, dass sie sich ereignet, mit einer bestimmten Folge verbindet, die auch sein soll. Die Norm verbindet zwei Tatbestände durch das Sollen. Ein Imperativ dagegen bedeutet die Tatsa- che, dass ein psychologischer Wille sein Wollen ausgedrückt hat. Später aber, in seiner dritten Entwicklungsetappe, hat Kelsen 255 wahrscheinlich unter dem Einfluss der amerikanischen realistischen Schule seinen Standpunkt geändert und hat zwischen Rechtsnorm 256 und Rechtsregel unterschieden. Die Rechtsnormen sind im Verlauf der Rechtsentwicklung von Individuen in ihrer Eigenschaft als zuständige Rechtsautorität geschaffen worden, stellen den Gegenstand der Rechts- wissenschaft dar und entstehen als Funktion der Rechtsgemeinschaft. Im Gegensatz dazu sind die Rechtsregeln vom Juristen, der keine Rechtsau- torität hat, formuliert, sind nicht eine Funktion der Rechtsgemeinschaft, sondern der Rechtswissenschaft, und daher kein Akt des Wollens, sondern solche der Erkenntnis. Die Normen sind daher nach der neuen Auffassung Kelsens Imperative und daher Willensakte, und als solche Gegenstand der Erkenntnis, also der Rechtswissenschaft. Die Rechtsregeln sind keine Imperative, sondern Urteile, die ihren Gegenstand beschreiben. Kelsen übersieht hier, dass schon jede Rechtsnorm (z. B. ein Gesetz oder ein Urteil) höchst logisiert ist und dass es sich bei der „Bildung“ einer Norm keinesfalls um einen bloßen Willensakt handelt, sondern – in erster Linie – um das folgerichtige Erkennen des objektiven Rechtsgeistes (des Rechtsbewusstseins des Volkes der entsprechenden Rechtsgemeinschaft einschließlich der rechtswissenschaftlichen Weltanschauung). 254 Kelsen: l. c., 2. Aufl. (1923), S. 205 ff., 212 ff., 216 ff.; vgl. besonders Legaz: l. c., S. 357 ff. 255 Kubeš: Das neueste Werk Hans Kelsens über die allgemeine Theorie der Normen und die Zukunft der Reinen Rechtslehre, Österr. Z. öfffentl. Recht und Völkerrecht, Jg. 31 (1980), S. 155 ff. 256 Kelsen: General Theory of Law and State (1945), S. 45 ff. 133","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Die Entwicklung gipfelt bei Kelsen in der vierten (letzten) Entwick- lungsetappe, die besonders durch das Werk Allgemeine Theorie der Normen (1979) charakterisiert ist. Die Norm ist in erster Linie „ein Gebot, eine Vor- 257 schrift, ein Befehl“. „Gebieten ist jedoch nicht die einzige Funktion einer Norm. Auch ermächtigen, erlauben, derogieren sind Funktionen von Normen“. 258 Und noch: „Die typische Funktion einer Norm ist das Gebieten eines bestimmten Ver- 259 haltens. ‚Gebieten‘ ist gleichbedeutend mit ‚Vorschreiben‘, zum Unterschied von „Beschreiben“. Beschreiben ist der Sinn eines Erkenntnisaktes; Vorschreiben, Gebieten, der Sinn eines Willensaktes. Man beschreibt etwas, indem man aussagt, wie es ist, man schreibt etwas vor – insbesondere ein bestimmtes Verhalten – indem man zum Ausdruck bringt, wie etwas sein soll. Sprachlich unterscheidet man ‚Gebieten‘ und ‚Verbieten‘. Aber das sind nicht zwei verschiedene Funktionen, sondern eine und dieselbe Funktion in Beziehung auf verschiedenes Verhalten: eine Wandlung und die Unterlassung dieser Handlung“. 5. Diese Auffassung Kelsens von der Rechtsnorm und der Norm über- haupt finde ich nicht richtig. Unter dem Begriff der Norm versteht man nämlich in der Rechtsphi- losophie – meistens unbewusst – insgesamt dreierlei: a) die Norm als die Erkenntnisform, b) das chaotische Wirklichkeitsgemisch, das schon in der Form der Norm bearbeitet ist, daher vielleicht das, was Kelsen (und z. B. auch Engliš) unter dem Urteil über die Norm versteht, c) den Willens- ausdruck, z. B. des Gesetzgebers, des Richters, des Beamten usw. Es scheint so, dass Kelsen in seiner letzten Arbeit unter dem Begriff der Norm nur den sub c) angeführten Willensausdruck versteht. Meiner Meinung nach muss man unbedingt an der Auffassung fest- halten, dass die Pflicht und die Norm die zentralen Wesensbegriffe des normativen Denkens überhaupt sind und dass man den Begriff der Norm nicht mit dem Begriff des Imperativs identifizieren darf. Die Norm ist die Festsetzung einer Pflicht zu etwas und zugleich ein normati- ves Werturteil, ein Wertmaßstab. 257 Kelsen: l. c., S. 1. 258 Kelsen: l. c., S. 1 ff. 259 Kelsen: l. c., S. 76 ff. 134","C: Das Werk IX Die Grundnorm bei Kelsen und der normative Angelpunkt bei Weyr 1. Für Kelsen, Weyr und für die ganze Normative Schule (die Reine Rechts- lehre) entstand schon von Anfang an das Hauptproblem, zwei scheinbar gegensätzliche Tendenzen in ein Ganzes zu vereinigen: 1. die Tendenz, das Recht als Ausdruck eines Sollens im Unterschied vom Sein zu begrei- fen, wodurch der Rechtswissenschaft ihr normativer Charakter gegenüber den Bemühungen, die Rechtswissenschaft unter dem kausalen Aspekt zu begreifen, garantiert werden sollte (die antisoziologische Tendenz); 2. die Tendenz gegen jedes Naturrecht; daher das Bemühen der Norma- tiven Schule, von den rechtlichen Auslegungen alle naherrechtlichen Elemente auszuschließen und sich auf das Erkennen des positiven Mate- rials zu beschränken, wodurch die Normative Theorie Berührungspunkte mit dem Positivismus fand (die positivistische Tendenz). 2. Das sollte Kelsen durch die Konstruktion der Grundnorm gelingen. Diese erfolgte in der zweiten Etappe der wissenschaftlichen Tätigkeit Kel- sens, und zwar unter dem Einfluss von Edmund Husserl, dessen Anhänger zwei berühmte Vertreter der Reinen Rechtslehre, Fritz Schreier und Felix Kaufmann, waren. Die Funktion der Grundnorm wurde bei Edmund Husserl klar formuliert, 260 wenn er betonte, dass die Grundnorm die Einheit der Dis- ziplin bestimmt und den Gedanken der Normierung in alle normativen Sätze derselben Disziplin hineinträgt. In der englischen Fachliteratur hat schon vor Kelsen Salmond den Gedanken der Grundnorm ausgedrückt. 261 Im italienischen Schrifttum hat Anzilotti die Grundnorm des Völker- 262 rechts im Kelsenschen Sinne als eine Hypothese der Rechts-wissenschaft konstruiert. Übrigens sah schon Kant die Notwendigkeit, eine überpositive 260 Husserl: Logische Untersuchungen I (1922), S. 48; vgl. Ebenstein: Die Rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre (1938), S. 94, Anm. 49. 261 Salmond: Jurisprudence, 8. Aufl. (1930), S. 169. 262 Anzilotti: Corso di diritto internationale (1955), S. 41; Ebenstein: l. c., S. 86. 135","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 263 Grundnorm zu konstruieren; allerdings konstruierte er sie als eine Norm des Naturrechts. Aber schon viele Jahrhunderte früher findet man bei Platon die Konstruktion der Grundnorm als einer Hypothese. Mit Hilfe dieser Grundnorm wollte die Normative Theorie in Kelsens Auffassung das Problem der Rechtsnorm selbst, das Problem der Defini- tion des Rechts, das Problem der rechtlichen Geltung und eine ganze Reihe weiterer wichtiger Probleme lösen. 264 Die Kelsensche Konstruktion der Grundnorm soll die folgerichtige Logisierung der rechtlichen Sphäre, und zwar im Geiste der Philosophie von Hermann Cohen, bedeuten. Das Recht als Gegenstand der Rechtswis- senschaft ist – nach Kelsens Meinung – erst durch diese Rechtswissenschaft geschaffen, ebenso wie einzelne Normen durch die Rechtswissenschaft dem alogischen Material der faktischen Willensakte, wie der Gesetze, 265 Urteile usw., geschaffen sind. Die hypothetische Grundnorm Kelsens drückt auch das Grundprinzip aus, dass die wissenschaftliche Untersu- chung selbst logisch bedingt ist. In seiner bis jetzt wenig bekannten Abhandlung Théorie du droit interna- tional coutumier behandelt Kelsen ausführlich „la norme fondamentale“, 266 und zwar „son caractère hypothetique“ und „son caractère empirique“. Er sagt „La norme fondamentale d´un ordre juridique n´est elle-même pas 267 une norme posée, c. a. d. norme positive, mais une norme supposée, hypothé- tique. C´est une hypothèse qui permet de considerer une pluralité de normes juridiques comme une unité, comme un ordre juridique“. „La norme fondamen- tale d´un ordre juridique a … le caractère d´une hypothese faite par la science juridique. Cette hypothèse a un caractère purement empirique. Le contenu de la norme fondamentale est determiné par les actes humains effectivement 263 Kant: Rechtslehre, S. 28. 264 Kubeš: Nemožnost plnění a právní norma [Die Unmöglichkeit der Leistung und die Rechtsnorm] (1938), S. 218-228. 265 Kelsen: Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? Eine Erwiderung (1928), S. 24; Moór: Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus. In: Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Kelsen (1931), S. 67. 266 Kelsen: l. c., in: Sborník prací k poctě šedesátých narozenin Františka Weyra, 25. IV. 1939 [Sammelband der Arbeiten zu Ehren des sechzigsten Geburtstages von Franz Weyr, 25. IV. 1939], Bd. II, S. 85-108. 267 Kelsen: l. c., S. 89. 136","C: Das Werk accomplis dans l´espace et dans le temps et qui doivent être interprétés comme des actes juridiques“. Gegen die Auffassung der Grundnorm als einer logischen Voraussetzung der Rechtswissenschaft, die die Funktion hat, dem Faktum der historisch ersten Schaffung der Verfassung den normativen Sinn eines Grundgeset- zes zu verleihen, polemisiert Julius Moór, 268 nach dessen Meinung – wenn die Kelsensche Behauptung richtig ist, dass aus einem Sein niemals ein Sollen fließen kann – die Voraussetzung der Grundnorm nichts anderes bedeutet, als dass man aus der logischen Unmöglichkeit die logische Vor- aussetzung der Rechtswissenschaft schafft. Moór betrachtet die ganze Konstruktion der hypothetischen Grundnorm als überflüssig. Zuerst – wie schon angedeutet wurde – begriff Kelsen die Grundnorm 269 270 als eine Hypothese. Robert Walter spricht von einer „Annahme“. Zum Schluss hat aber Kelsen selbst erkannt, dass es sich bei der Grundnorm um keine Hypothese handeln kann, sondern um eine Fiktion han- 271 deln muss. Kelsen schreibt: „Die Grundnorm einer positiven Moral – oder Rechtsordnung – ist – wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich – keine posi- tive, sondern eine bloß Gedachte, und das heißt eine fingierte Norm, der Sinn nicht eines realen, sondern eines bloß fingierten Willensaktes. Als solche ist sie eine echte oder ‚eigentliche‘ Fiktion im Sinne der Vaihingerschen Philosophie des Als-Ob, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht nur der Wirklich- keit widerspricht, sondern auch in sich selbst widerspruchsvoll ist“. Und noch 272 weiter: „Daher ist zu beachten, dass die Grundnorm im Sinne der Vaihinger- schen Als-Ob-Philosophie keine Hypothese ist, als was ich selbst sie gelegentlich gekennzeichnet habe, sondern eine Fiktion, die sich von einer Hypothese dadurch unterscheidet, dass sie von dem Bewusstsein begleitet wird oder begleitet werden soll, dass ihr die Wirklichkeit nicht entspricht“. 268 Moór: l. c., S. 67, 70 ff. 269 Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 2. Aufl. (1923), S. XIV ff.; vgl. Römer: Von Grundnormen und Normgründen. Zwei Kelsen-Symposien in Österreich, Demokratie und Recht (1982), S. 60 ff. 270 Walter: Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre. In: Merkl, Marcic, Verdross, Walter (Hg.): Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (1971), S. 3 ff. 271 Kelsen: Allgemeine Theorie der Normen (1979), S. 206. 272 Kelsen: l. c., S. 207. 137","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Wenn aber die Grundnorm eine Fiktion ist und wenn die ganze positive Rechtsordnung von dieser Fiktion abhängt, so ist diese positive Rechtsord- nung auch eine bloße Fiktion. Das ist sicher eine unannehmbare Folge. Die positive Rechtsordnung ist etwas Reales, sie ist der objektivierte Rechts- geist und gehört in die höchste Schicht des stufenförmigen Aufbaues der realen Welt, nämlich in das geistige Sein. 3. Nach meiner Meinung ist die Konstruktion der Grundnorm für den positiven Juristen keinesfalls notwendig, aber doch zweckmäßig. Für den Rechtsphilosophen ist es aber unbedingt notwendig, diese Grundnorm irgendwo zu verankern, was weder Kelsen noch die ganze Schule der Rei- nen Rechtslehre tut. Die Folge davon ist dann auch die absolute Isolation des Rechts und die Unmöglichkeit, die Normativität des Rechts zu begrün- den. Die Beziehung des Rechts zur Moral ist für einen Vertreter dieser Schule letzten Endes ein unlösbares Problem, ebenso wie die kardinale Frage nach dem Naturrecht, die die führenden Genies der Menschheit schon von Hesiod, Heraklit, Sokrates, Platon und Aristoteles an erregte und immer noch – und besonders heutzutage – erregt, von der Position dieser Schule aus nicht zufriedenstellend gelöst werden konnte. Die hypothetische oder fiktive Grundnorm kann doch nicht isoliert als eine künstliche Spitze des hierarchischen Aufbaues der Rechtsord- nung in die Welt ragen, sondern sie ist eine „Abkürzung“, die in nucleo den ganzen positivrechtlichen Aufbau der Rechtsnormen einschließlich aller Schichten des Völkerrechts enthält, die logische Einheit dieses gan- zen Systems „garantiert“ und in eine wesensnotwendige Beziehung zum objektiven Rechtsgeist (zum Rechtsbewusstsein des Volkes der diesbe- züglichen Gemeinschaft einschließlich der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung) mit der realen Idee des Rechts und letztlich zur Norm- idee des Rechts (dieser dialektischen Synthese von Gerechtigkeit, Freiheit des konkreten Menschen, Sicherheit und Zweckmäßigkeit) führt, wo erst jene echte und letzte Quelle des Sollens, der reinen Normativität, verbor- gen ist. 138","C: Das Werk Es entsteht allerdings die Frage, ob die ganze Konstruktion der Grund- norm nicht doch überflüssig ist. Auf diese Frage muss man grundsätzlich eine negative Antwort geben, und zwar deshalb, weil die Grundnorm eine gewisse Barriere zwischen der Sphäre der positivrechtlichen und der rechtsphilosophischen Untersuchungen bildet. Gewiss han- delt es sich um eine relative Barriere und man darf nie vergessen, dass die immanent-positivrechtliche Untersuchung nicht das letzte Wort des Juristen sein darf. Auf der anderen Seite ist es aber – sicher nur in einer gewissen Phase, und zwar wenn wir uns mit rechtsdogmatischen Fragen im engsten Sinn beschäftigen – wünschenswert das Recht in seiner Isolation zu sehen; das bedeutet, das Recht vom immanent-positivrechtlichen Stand- punkt zu bearbeiten. Der Garant dafür, dass diesen immanent-rechtlichen Standpunkt wir nicht vorzeitig verlassen, ist gerade die schroffe Kon- struktion der Grundnorm. Allerdings stellt sich der Rechtsphilosoph und mit ihm schließlich auch der positive Jurist – besonders wenn er mit dem sog. Generalklauseln zu tun hat – die Frage: Was liegt hinter dieser Grundnorm? Und da erscheint die Sphäre des objektiven Rechtsgeistes mit der abgeleiteten Normativität und auch mit der realen Idee des Rechts. In dieser Verankerung der Grundnorm im objektiven Rechtsgeist mit der realen Idee des Rechts und letztlich in der Normidee des Rechts löst sich die ganze, scheinbar unlösbare Problematik der Positivität des Rechts als einer bestimmten Realität und des rechtlichen Sollens. 4. Gegenüber der Konstruktion der Grundnorm hat Weyr eine – im Grunde genommenen – zurückhaltende Haltung. Er spricht lieber von einem nor- mativen „Brennpunkt“ und nur nebenbei von einer „Urnorm“. Weyr betont: „Erst von diesem dynamischen Standpunkt aus entsteht das Problem der primä- ren Norm (Urnorm) oder des Brennpunktes des Normensystems. Mit dem Begriff der primären Norm wird die metanormative Vorstellung des primären Norm- schöpfers, der die Norm aus dem Nichts schafft, ersetzt. Deswegen kann man diese primäre Norm nur bildlich und im weiteren Sinne als Norm begreifen. Denn sie stellt nach ihrer noetischen Natur keine Pflicht fest, sondern ist unerlässliche Voraussetzung (Hypothese) aller normativen Erkenntnis. Sie wendet sich nicht 139","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) an das Subjekt der Pflicht, sondern an das Subjekt des Erkennens. Dieses bringt sie mit sich, es setzt sie nicht fest (wie ein gewöhnlicher sc. sekundärer Normschöpfer die Norm festsetzt). Die primäre Norm ist vorausgesetzt, nicht gesetzt. Infolge- dessen erscheint sie als die zentrale noetische Konstruktion der transzendentalen Methode, die die Normative Theorie im Sinne der Kantschen Philosophie auf die Rechtswissenschaft anwendet. Sie bildet ‚die Gegebenheit‘ des Gegenstandes des normativen Erkennens, selbst aber existiert sie nicht (im kausalen Sinn), noch gilt sie (im normativen Sinn). Sie ist die Verfassung der Brennpunkt – der Rechts- ordnung im rechtslogischen Sinn im Unterschied zu der Verfassung im positiven oder normativen Sinn. Aber schon der Umstand, dass Kelsen diese Verfassung im logischen Sinn als Norm bezeichnet, war die Ursache vieler Zweifel an deren eigenem Wesen. Diese Zweifel erhöhten sich noch, als in jene Grundnorm, die eigentlich keine Norm ist, ausdrücklich ein normativer Inhalt hineingelegt wurde, wie es z. B. bei dem Satz pacta sunt servanda geschieht, der gewöhn- liche als konstruktive Grundlage des Völkerrechts bezeichnet wird… Vom literarisch-historischen Standpunkt ist es übrigens wichtig sich zu vergegenwär- tigen, dass die Kelsensche Konstruktion der Grundnorm aus der Husserlschen Philosophie stammt. Vgl. Kunz, Völkerrechtswissenschaft und Reine Rechtslehre, 274 273 1923, S. 37.“ Und noch: „Der Inbegriff der Normen bleibt immer derselbe, d. i. identisch, solange sein Brennpunkt unverändert bleibt. Seine Identität (Individualität) ist so rein formaler Natur, d. i. der konkrete Inhalt des Normen- inbegriffs ist unentschieden; zu diesem Inhalt gehört aber … die territoriale und persönliche (sachliche) Kompetenz seiner Normen, weiter die Regeln, durch wel- che die Normschöpfung geregelt ist, was in der Sprache der traditionellen Lehre bedeutet: die konkrete Regelung der Organisation oder der Staatsmacht. Die Identität bzw. die Individualität des Normeninbegriffs ist ganz von der Identi- tät bzw. Individualität des Ausgangspunktes des erkennenden Subjekts als dessen subjektiven Beitrags abhängig. Wenn aber das erkennende Subjekt diesen oder jenen Ausgangspunkt einnimmt, dann findet es in dem Gegenstand seines Erken- nens (in dem konkreten Normenbegriff) die Hilfsmittel, mit denen es – allerdings nur vom dynamischen Standpunkt – seine Kontinuität feststellen kann. Das 273 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 348 ff. 274 Weyr: l. c., S. 232 ff. 140","C: Das Werk geht klarer aus dem folgenden Beispiel hervor: Die Rechtsordnung – und daher auch der Staat – bleibt dieselbe, soweit sie sich nach den in ihr selbst enthal- tenen Regeln ändert. Das bedeutet also, dass die Identität der Rechtsordnung (des Staates) erhalten bleibt, auch wenn sich – im Wege der Rechtskontinui- tät die Elemente vollkommen ändern würden, aus denen sich der Staat nach der geläufigen Meinung zusammensetzt (Gebiet, Einwohnerschaft, Machtrege- lung). Die Identität (Individualität, Kontinuität) vergeht dagegen, sobald wir annehmen, dass jene Veränderungen – auch noch so geringe – im Wege der Dis- kontinuität entstanden sind. Das ist der Fall der Revolution (des Umsturzes, 275 nämlich: des Brennpunkts des Gegenstandes des normativen Erkennens)“. Die Revolution ist so die Negation des Rechts oder die Negation seines bishe- rigen Brennpunktes. Im noetischen Gebiet bedeutet sie die Veränderung des erkennenden Ausgangspunktes (das Verlassen des bisherigen Brenn- punktes und die Einsetzung eines anderen). X Der Begriff des Rechts; die Stufenförmigkeit der Rechtsordnung; lex posterior derogat priori; das Völkerrecht 276 1. Man kann mit den Worten Kelsens anfangen: „The concept of the legal rule in both aspects – the legal rule as norm created by the legal authority to regu- late human behaviour, and as an instrument used by legal science to describe the positive law – is the central concept of jurisprudence“. Oder wie Karl Bergbohm sagt: „Im Zentrum aller unserer Begriffe und Lehren steht der Begriff Recht 277 im objektiven Sinne selbst“. „Der Rechtsbegriff bleibt der Kulminationspunkt aller juristischen Begriffe, Urteile und Systeme, der Kapitalbegriff der Jurispru- denz im allerweitesten Sinn“. 275 Sander: Das Faktum der Revolution und die Kontinuität der Rechtsordnung, Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. I (1919/1920); Stránský: Právo a revoluce [Das Recht und die Revolution], Vědecká ročenka právnické fakulty Masarykovy univerzity, Jg. III (1924); Neubauer: Revoluce [Die Revolution]. In: Slovník veřejného práva československého, Bd. III (1934); Weyr: Soustava československého práva státního [Das System des tschechoslowakis- chen Staatsrechtes], 2. Aufl. (1924), S. 53. 276 Kelsen: General Theory of Law and State (1945), S. 50. 277 Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892), S. 71 ff. 141","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Die Definition des Rechts muss auf den Ergebnissen aufgebaut werden, zu denen man schrittweise durch die Lösung aller strittigen Grundfra- gen gelangt, wie z. B. die Frage, wie man das Erfordernis der Realität bzw. der Positivität des Rechts damit in Einklang bringt, dass das Recht doch in einem Wesens-Zusammenhang mit dem Sollen, mit der Richtigkeit, mit der Normativität steht, dass die Definition des Rechts derart sein muss, dass sie nicht nur die individualistisch-kapitalistische Rechtsordnung, sondern auch die Rechtsordnung in der sozialistischen Auffassung und überhaupt alle möglichen Rechtsordnungen umfasst; weiter die Frage nach dem Ver- hältnis von Recht und Zwang, sowie nach der Faktizität und Effektivität des Rechts; die Frage des Verhältnisses von Recht und Moral, von Recht und der Revolution, die Frage des Rechts contra humanitatem usw. Es ist 278 daher richtig, was Kant in Bezug auf die Philosophie feststellte, „dass … die Definition das Werk eher schließen als anfangen müsse“. 2. Die ursprüngliche, in den „Hauptproblemen“ vertretene, statische und eindimensionale Auffassung der Rechtsordnung hat Kelsen – beson- 279 ders unter dem Einfluss von Merkl – verlassen. Die Stufenförmigkeit der Rechtsordnung und die dynamische Auffassung des Rechts wurden Hauptbestandteile der Schule der Reinen Rechtslehre. Den Anfang der Konstruktion des Stufenbaus der Rechtsordnung kann man schon in Weyrs Abhandlung Ein Beitrag zur Theorie der Rechtsanwen- dung 280 beobachten. Wenn Weyr allerdings sagt, dass Merkl in seiner 281 Schrift Die Lehre von der Rechtskraft (1923) als erster bewusst und bis in alle Folgen den wichtigen Gedanken der Stufenförmigkeit (der Hierarchie) der Rechtsordnung ausführte, der Grundlage für die spätere normative 278 Kant: Kritik der reinen Vernunft, Ausgabe B, S. 75 f. 279 Merkl: Zum Interpretationsproblem, Grünhuts Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart (1916); derselbe: Die Lehre von der Rechtskraft (1923), bes. S. 7 ff.; derselbe: Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues. In: Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht, Festschrift für Kelsen (1931), S. 252 ff.; vgl. Sedláček: Právní norma [Die Rechtsnorm], Vědecká ročenka právnické fakulty Masarykovy univerzity v Brně, Jg. XI (1932), S. 92. 280 Weyr: Příspěvek k teorii aplikace práva, Časopis pro právní a státní vědu, Jg. II (1919). 281 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 342. 142","C: Das Werk Lehre wurde, so ist das nicht ganz richtig. Schon Bierling 282 ist es gelungen, das Bild des rechtlichen Zusammenhanges als eines Delegationszusam- menhanges klar darzustellen. In diesem Zusammenhang kann man auch das Dictum von Melanchton anführen: „Norma superior praeferenda est inferiori“. 283 Der Gedanke des stufenförmigen (hierarchischen) Aufbaues garantiert uns am besten die Einheit des betreffenden Materials. Es ist überhaupt interessant zu beobachten, wie die Stufenförmigkeit in der realen und auch in der idealen Welt besteht. In der realen Welt begegnet man einem dreifachen stufenförmi- gen Aufbau. Erstens gibt es den stufenförmigen Aufbau der ganzen realen Welt mit ihren vier Grundschichten; in die höchste Grundschicht gehört die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist, der auf dem objektiven und personalen Rechtsgeist ruht. Zweitens findet man den stu- fenförmigen Aufbau bei der Rechtsordnung, die eine großartige Pyramide einzelner Schichten des Völkerrechts und einer großen Anzahl einzelner Schichten staatlicher Rechtsordnungen ist. Drittens findet man die Stu- fenförmigkeit bei der wissenschaftlichen Weltanschauung und speziell bei der wissenschaftlich-rechtlichen Weltanschauung, die sich als ein offenes stufenförmiges System einzelner Ideen darstellt. In der idealen Welt begegnet man einem stufenförmigen Auf- bau von Normideen mit der Normidee der konkreten Menschlichkeit an der Spitze. Die Normative Theorie hat aus diesem hierarchischen und dyna- mischen Prinzip ein Charakteristikum des positiven Rechts gemacht. Dieses Unterscheidungsmerkmal genügt aber Kelsen offenbar nicht; des- wegen konstruiert er weitere Unterscheidungsmerkmale und lehrt, dass das positive Recht vom menschlichen Willen gesetzt ist und eine Zwangs- ordnung darstellt, die eine bestimmte Faktizität aufweist. 284 Der Zwang 282 Bierling: Juristische Prinzipienlehre I (1894), S. 109 ff., 112 ff.; derselbe: Zur Kritik der juris- tischen Grundbegriffe (1887), S. 105 ff.; Voegelin: Die Einheit des Rechtes und das soziale Sinngebilde Staat, Revue internationale de la Théorie du Droit, Jg. V (1930), S. 61. 283 Marcic: Rechtsphilosophie (1969), S. 180. 284 Kelsen: Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus (1928), S. 8 ff. 143","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) als ein unentbehrlicher Bestandteil des positiven Rechts bedeutet aber für Kelsen keine Wirklichkeit als solche, sondern einen Normeninhalt. Kelsen ist bestrebt, auf diese Weise das soziologische Moment des faktischen phy- sischen Zwangs in die normative Ebene zu überführen. 285 Für Kelsen ist die Konstruktion der Rechtsnorm für die Unterschei- dung des positiven Rechts vom Naturrecht entscheidend. Während er in den „Hauptproblemen“ als Kriterium der Rechtsnorm den Willen des Staates festsetzte, wobei der Staat etwas von der Rechtsordnung Ver- schiedenes war, lehnte er in seiner Staatslehre den Begriff der Personalität überhaupt ab, und aus der Rechtsnorm wurde eine bloße „zu exequierende“ Norm. Diese Entwicklung findet dann in seiner Arbeit Die philosophischen Grundlagen der Naturrechtslehre und des Rechtspositivismus 286 ihren Höhe- punkt. Wie schon Kelsen gerade die Exequierbarkeit der Rechtsnorm betont, zeigt sich, wenn er feststellt, dass alle Bemühungen, dem Recht das Zwangsmoment als ein unwesentliches Merkmal abzusprechen, letz- ten Endes dazu führen, dass der Unterschied zwischen positivem Recht und Naturrecht zu verwischt wird. 287 Wie man sieht, verwendet Kelsen zur Unterscheidung des positi- ven Rechts vom Naturrecht und überhaupt zur Bestimmung des Begriffs der positiven Rechtsnorm einige Merkmale, die man im Rahmen des rein normativen Denkens nicht gewinnen kann. 3. Weyr bemüht sich, die Normative Theorie frei von kausal-explikativen Elementen zu bewahren. In seiner Abhandlung Pojem positivnosti práva [Der Begriff der Positivität des Rechts] 288 zeigte er, dass die Wirksamkeit nicht die Eigenschaft der Norm als solcher sein kann, sondern Eigen- schaft von etwas ganz anderem, nämlich von der Vorstellung der Norm im menschlichen Gehirn ist, und dass man das Kriterium der „Geltung“, 285 Kelsen: Die Idee des Naturrechtes, Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. 7 (1928), S. 225; vgl. Moór: Reine Rechtslehre, Naturrecht und Rechtspositivismus, l. c., S. 91. 286 Vgl. Sedláček: Normologický obsah občanského zákoníka [Der normologische Inhalt des bürgerlichen Gesetzbuches], Vědecká ročenka Právnické fakulty Masarykovy university v Brně, Jg. VII (1928) S. 122 ff. 287 Vgl. Kelsen: Die Idee des Naturrechtes, Zeitschrift für öffentliches Recht, Jg. 7 (1928), S. 225. 288 Weyr: l. c., Vědecká ročenka Právnické fakulty Masarykovy university v Brně, Jg. X, S. 24, 31. 144","C: Das Werk d. h. der Existenz im normativen Sinn nicht bei der Unterscheidung zwi- schen „positivem“ und Naturrechts nicht anwenden kann. Aber auch Weyr genügt das rein normative Rüstzeug zur Bestimmung der Rechts- norm nicht. Der Grund der Erkenntnis, dass es sich im konkreten Fall um eine Rechtsnorm handelt, liegt für Weyr darin, dass man sie einem bestimmten Normensubjekt, d. i. dem Staate, zurechnen soll. Weyr hat aber auf der anderen Seite die Identität der Rechtsordnung und des Staa- tes angenommen, wodurch er bis zu einem gewissen Grade in einen Kreis geraten ist, denn der Staat ist für ihn die Rechtsordnung, die Rechtsord- nung ein Inbegriff von Rechtsnormen, d. i. Normen, deren Normensubjekt der Staat ist. Auf jeden Fall ist es gefährlich, das Wort „Staat“ einerseits als einen Zurechnungspunkt, als ein bestimmtes Zeichnen, dass es um eine Rechtsnorm geht, zu verwenden und andererseits den Staat direkt als die Rechtsordnung aufzufassen, also in zwei Bedeutungen, die doch ver- schieden sind. 289 Wenn wir nun einzelne Stufen von Rechtsnormen betrachten, sehen wir, dass diese Rechtsnormen einerseits die materiellen, anderseits die formalen Bedingungen, die die Entstehung der niederen Norm bestim- men, enthalten. Die niedere Norm entsteht dann aus der höheren nicht durch eine bloße Gedankenoperation, sondern es ist bei den Rechtsnor- men immer ein Akt eines bestimmten „Organs“ notwendig, dass eine niedere Norm entstehe. Die Tätigkeit dieses Organs (z. B. des Richters bei der Fällung eines Urteils, des Privaten beim Abschluss eines Vertrages) ist einerseits durch die formalen Bedingungen, d. i. durch jene, die den Vor- gang, den jenes Organ einhalten soll, bestimmen, anderseits durch die materiellen Bedingungen, die einmal strikter, ein anderesmal weniger strikt bestimmen, wie die niedere Norm inhaltlich aussehen soll, determi- niert. 290 Diese materiellen Bedingungen bestimmen in der Regel den Inhalt der niederen Norm nicht ganz genau (und sind auch nicht dazu imstande), 289 Vgl. Sedláček: l. c., S. 122 ff.; derselbe: Právní norma [Die Rechtsnorm], Vědecká ročenka Právnické fakulty Masarykovy university v Brně, Jg. XI (1932), S. 94, wo er zeigte, dass Weyr das Recht als eine Ordnung von heteronomen Normen begreift; Kubeš: Smlouvy proti dobrým mravům [Verträge gegen die guten Sitten] (1933), S. 40. 290 Dazu z. B. Kubeš: l. c., S. 52 ff. 145","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) nämlich so, dass jenes Organ durch einfache analytische Urteile den Inhalt der niederen Norm nichts aus sich gebend deduzieren könnte. Die höhere Norm lässt im Gegenteil dem Organ einen gewissen, einmal größe- ren, dann wieder kleineren Spielraum, in dem sich das Organ relativ frei bewegen soll. Relativ deswegen, dass es – da es selbst nichts anderes als ein „immanenter“ Bestandteil der Rechtsordnung ist – immer so entscheiden soll, dass sich seine Entscheidung harmonisch in das Ganze der Rechtsord- nung einreiht. Wenn dieser ganze Schöpfungsakt zu Ende ist, erscheint eine neue fer- tige Norm. Was beobachten wir an ihr? Wir beobachten, dass sie inhaltlich reicher ist als die unmittelbar übergeordnete Rechtsnorm. Wir beob- achten, dass sie gewisse Elemente aufweist, die wir keinesfalls mittels analytischer Urteile aus der Delegationsnorm deduzieren können. Es ist ein Grundirrtum zu meinen, dass es möglich ist, wie Beccaria, der Abso- lutismus und auch der Liberalismus des 18. und des 19. Jahrhunderts forderten und wie bis heute noch einige Theoretiker denken und fordern, dass das Organ (der Richter), wenn es auf Grund der Delegationsnorm (des Gesetzes) entscheidet, seine Entscheidung durch analytische Urteile aus diesem Gesetz deduziert. 291 Weyr stellt noch in seiner Theorie des Rechts fest: „Wenn wir sagen, 292 dass man für Rechtsnormen nur jene halten soll, deren direktes oder indirek- tes normschöpfendes Subjekt der Staat ist, haben wir dadurch vollkommen die Rechtsnormen von allen anderen (religiösen, gesellschaftlichen usw.) unterschieden. In konkreten Fällen kann nicht der geringste Zweifel darüber entstehen, ob eine bestimmte Norm eine tschechoslowakische, französische, österreichische usw. Rechtsnorm ist oder nicht. Vom normativen Standpunkt ist es nicht nötig – und auch nicht möglich jenes normschöpfende Subjekt explikativ (deskriptiv) zu definieren, weil wir durch diese Deskription (Beschreibung) etwas anderes definieren würden als das normschöpfende Subjekt als das regulative Prinzip der normativen Erkenntnis, das (unter anderem) eine bestimmte Gruppe von Normen als einen einheitlichen Normeninbegriff (die tschechoslowakische, 291 Kubeš: l. c., S. 53. 292 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 70 ff. 146","C: Das Werk französische, österreichische usw. Rechtsordnung) zu begreifen ermöglicht, nämlich einen gewissen empirischen Normschöpfer. Der Staat als theoretisch gedachter Normenschöpfer und das konkrete soziale Gebilde (die Organisa- tion) als ein Stück der äußeren Welt, das man auch ‚Staat‘ nennt – der Staat im historisch-politischen, soziologischen, geographischen usw. Sinn – sind zwei absolut verschiedene Begriffe. Staaten in diesem zweiten Sinn (empirische Staa- ten) können sich sehr voneinander unterscheiden, und es ist daher möglich, sie einzeln, durch die explikative Methode, zu beschreiben (der tschechoslowaki- sche Staat zum Unterschied vom französischen usw. Staat), der Staat in jenem Sinne ist notwendigerweise nur ein einziger. Seine ‚Einzigkeit‘ ergibt sich schon aus der … Eigenschaft jeglichen normativen Erkennens: aus seiner Exklusivität, was bedeutet, dass man gleichzeitig immer nur einen einzigen Normeninbegriff erkennen kann…“ „Die Ansicht, dass nur eine sanktionierte Norm eine Rechtsnorm sein kann, erklärt sich (unter anderem) aus dem Bemühen, die normative Erkennt- nis zu rationalisieren, d. i. den Grund der Erkenntnis dafür zu gewinnen, dass und wann hier eine Pflicht besteht. Aber dieses Bemühen wird dadurch nur sehr unvollkommen befriedigt. Denn letzten Endes bleibt die Frage nach dem Beweis der Existenz (Geltung) der Norm, d. i. daher auch der Pflicht bzw. auch der Schuld, ein metanormatives Problem, wie die Frage nach dem Beweis der Existenz (Wirklichkeit) der Natur ein metaphysisches Problem ist, ein Pro- blem, das durch immanente Mittel dieser beiden Erkenntnismethoden nicht lösbar ist“. 293 Was die Weyrsche Auffassung des Verhältnisses von Recht und Staat betrifft, erscheint ihm – wie schon angedeutet wurde – vom dynamischen Standpunkt der Staat als normschöpfendes Subjekt der Rechtsordnung (des Rechts), vom statischen (immanent normativen) Standpunkt fällt er begrifflich in eins mit der Rechtsordnung zusammen. Daraus folgt, dass man nur das, was man über die Rechtsordnung aussagen kann, auch vom Staat aussagen kann, weiters dass jedes Recht ein Staatsrecht ist, d. i. dass 294 eine Rechtsnorm soviel wie eine Staatsnorm bedeutet. Die Grundthese 293 Weyr: l. c., S. 73. 294 Weyr: l. c., S. 89. 147","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 295 der juristischen Erkenntnis lautet in Weyrs Formulierung: „Die noetische Identität zwischen dem Staat im normativen Sinn und der Rechtsordnung, wodurch das angedeutete ‚Scheinproblem‘ (das Verhältnis des Staates zu seiner Rechtsordnung) weggeschafft ist“. 4. Eines der Grundprinzipien, das die Einheit der Rechtsordnung garantieren soll, ist der Grundsatz, dass die spätere Rechtsnorm allen Rechtsnormen derselben oder niederer Relevanz, die ihr widersprechen, derogiert (lex posterior derogat priori). Strittig ist vor allem, ob dieser Grundsatz nur insofern gilt, als er durch die positive Rechtsordnung ausdrücklich festgesetzt wird, oder ob es sich um ein rechtslogisches Prinzip handelt, das ohne Rücksicht auf die positiv-rechtliche Regelung gilt, gegebenenfalls auch dann, wenn die Rechtsordnung ausdrücklich die Geltung dieses Prinzips ausschließt. Man kann folgende Gruppen unterscheiden: 1. Die einen lehren, dass es sich um ein logisch-rechtliches Prinzip, um eine logische Grenze der Rechtsschöpfung handelt, und dass es überhaupt nicht möglich ist und auch nicht in der Macht des Gesetzgebers liegt, dieses Prinzip zu negieren. Hierher gehört 297 vor allem Somló, aber auch Moór und Zdeněk Neubauer. 298 296 2. Die anderen sind im Gegenteil der Meinung, dass es sich um eine positiv-rechtliche Bestimmung handelt und dass die Rechtsord- nung festsetzen kann, dass gerade der entgegengesetzte Grundsatz gilt, nämlich „lex posterior non derogat priori“. Merkl betont, dass 299 es sich um eine positiv-rechtliche Bestimmung handelt und dass der Rechtsordnung der entgegengesetzte Grundsatz immanent 295 Weyr: l. c., S. 92. 296 Somló: Juristische Grundlehre (1917), S. 338. 297 Moór: Das Logische im Recht, Revue internationale de la Thèorie du Droit, Jg. 11 (1927/1928), S. 165. 298 Neubauer: Sociální pojištění po stránce procesní [Die soziale Versicherung von prozessualer Seite] (1927), S. 260 ff. 299 Merkl: Die Lehre von der Rechtskraft (1923), S. 238, 255 ff., 260 ff.; derselbe: Allgemeines Verwaltungsrecht (1927), S. 211. 148","C: Das Werk ist und dass, wenn die Rechtsordnung nichts anderes bestimmt, die ältere Rechtsnorm Vorrang vor der neueren hat und das Recht dann unabänderlich ist. 301 Zu dieser Gruppe gehören auch Weyr 300 und Sedláček. Kelsen selbst betrachtete früher 302 den ganzen Streit als überflüssig. Jetzt aber ist er zu der Ansicht gekommen, dass es sich um eine positiv-rechtliche Bestimmung handelt. In seinem letzten Werk schreibt er: 303 „Die Unaufheb- barkeit einer Norm bedeutet nicht, dass nicht eine andere Norm gesetzt wird und in Geltung treten kann, die mit der Unaufhebbaren Norm in Konflikt steht. Wenn dies der Fall ist, d. h. wenn eine Norm A gilt, deren Geltung gemäß einer Bestim- mung des positiven Rechts nicht aufgehoben werden kann, und dennoch eine Norm B gesetzt wird, die den durch die Norm A geregelten Gegenstand in ande- rer Weise regelt, bleibt die unabänderliche Norm in Geltung, und es besteht ein Konflikt zwischen der Norm A und der Norm B. Ein solcher Normen-Konflikt kann dadurch gelöst werden, dass die Bestimmung betreffend die Unaufhebbar- keit der Geltung der Norm A aufgehoben und sohin auch die Geltung der Norm A nach dem Prinzip der lex posterior derogat priori durch die Norm B oder dass die Geltung der Norm B aufgehoben wird“. Und noch: 304 „Die Einsicht in das Wesen der Derogation ist durch die von der römischen Jurisprudenz über- nommene Lehre getrübt worden, die in dem Satze lex posterior derogat priori formuliert ist. Dieser Satz ist irreführend. Vor allem darum, weil er den Ein- druck erweckt, als ob die Derogation die Funktion einer der beiden in Konflikt stehenden Normen wäre. Das trifft ... nicht zu. Der in Frage stehende Grundsatz ist auch darum problematisch, weil er, da Derogation kein logisches, sondern ein positiv-rechtliches Prinzip ist, nicht notwendigerweise zur Anwendung kommen muss, sondern nur zur Anwendung kommt, wenn er positiv-rechtlich normiert ist, und weil er keineswegs in allen Fällen eines Normenkonflikts zur Anwendung kommt. Im Vorhergehenden wurde gezeigt, dass im Falle eines Normenkonflikts 300 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 103; vgl. der auch Weyr: Základy filozofie práva [Grundlagen der Rechtsphilosophie] (1920), S. 24. 301 Sedláček: Občanské právo československé. Všeobecné nauky [Tschechoslowakisches bürgerli- ches Recht. Allgemeine Lehren] (1931), S. 113. 302 Kelsen: Das Problem der Souverenität und die Theorie des Völkerrechts (1920), S. 115. 303 Kelsen: Allgemeine Theorie der Normen (1979), S. 89. 304 Kelsen: l. c., s. 102 ff. 149","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) nicht die frühere, sondern die spätere Norm die Geltung, in die sie durch ihre Setzung getreten ist, verlieren kann, und man – nach Analogie des Grundsatzes: lex posterior derogat priori – sagen müsste: lex prior derogat posteriori. Auch der Fall, dass im Wege der Derogation beide in Konflikt stehenden Normen ihre Geltung verlieren, dass sie – wie man in Anlehnung an die Formel lex posterior derogat priori sagt – ihre Geltung gegenseitig aufheben, ist ignoriert. Gegen die Behauptung, dass die einen Normenkonflikt lösende Derogation, insbesondere der Grundsatz, der formuliert wurde: lex posterior derogat priori kein logisches, sondern ein positiv-rechtliches Prinzip ist, könnte man einwenden, dass eine Norm, die die im Falle eines Normenkonflikts stattfindende Derogation regelt, als ausdrücklich gesetzte Norm in einer positiven Rechtsordnung sich zumeist nicht vorfindet. Dies ist daraus zu erklären, dass der Gesetzgeber manches ausdrück- lich zu normieren unterlässt, weil er es als selbstverständlich, stillschweigend voraussetzt. Es ist durchaus möglich, dass die drei Arten Normenkonflikte zu lösen, von den rechtsanwendenden Organen als Interpretationsprinzipien so allgemein angewendet werden, dass ihre Geltung als selbstverständlich – auch von den Gesetzgebern – angesehen und daher stillschweigend als geltend vor- ausgesetzt werden, dass der Verfassungsgeber als selbstverständlich voraussetzt, dass ein späteres von dem Gesetzgeber gesetztes Gesetz, das mit der Verfassung in Konflikt ist, seine Geltung verliert; dass der Gesetzgeber, wenn er eine Norm setzt, als selbstverständlich annimmt, dass eine von ihm früher gesetzte Norm, die mit der späteren in Konflikt ist, ihre Geltung verliert, dass er als selbst- verständlich annimmt, dass, wenn in einem von ihm erlassenen Gesetz zwei Normen miteinander in Konflikt stehen und er nichts für diesen Fall bestimmt hat, die normanwendenden Organe die Wahl zwischen beiden haben, oder dass beide ihre Geltung verlieren. Dann sind eben diese Derogationsprinzipien posi- tive Rechtsnormen. Worauf es aber rechtstheoretisch ankommt, ist, dass diese Derogationsprinzipien keine logischen Prinzipien sind und dass, wenn sie nicht ausdrücklich gesetzt oder als stillschweigend gesetzt vorausgesetzt sind, Normkonflikte ungelöst bleiben, dass die Rechtswissenschaft ebenso wenig kom- petent ist – etwa durch Interpretation – vorhandene Normkonflikte zu lösen, d. h., die Geltung von gesetzten Normen aufzuheben, wie Normen in Geltung zu setzten“. 150","C: Das Werk Wenn wir einen „dynamischen“ Inbegriff von Normen, dessen Proto- typus der Inbegriff von Rechtsnormen ist, im Auge haben, gelangt man notwendigerweise zu der Erkenntnis, dass der Grundsatz lex posterior derogat priori weder eine positiv-rechtliche Regelung voraussetzt noch ein rechtslogisches Prinzip vorstellt, sondern dass es sich um eine onto- logische Notwendigkeit handelt, dass es daher um ein rechtsontologisches Prinzip geht. Die Begründung dieser Behauptung ist folgende: Die Rechtsordnung ist der objektivierte Rechtsgeist und gehört in die höchste Schicht des stu- fenförmigen Aufbaues der realen Welt. Allen Schichten der realen Welt ist die Kategorie der Zeit immanent. Diese Kategorie der Zeit ist die bestim- mende Kategorie der realen Welt. Alles in der realen Welt entsteht, lebt und geht unter. Die Rechtsordnung als objektivierter Rechtsgeist ist leben- dig und das Leben eines solchen Normenkomplexes zu negieren, würde bedeuten, sein eigenes Wesen zu negieren. Der objektivierte Rechtsgeist wird durch den objektiven Rechtsgeist getragen und bedingt. Besonders im Zusammenhang mit dem objektiven Rechtsgeist (mit dem Rechtsbe- wusstsein des Volkes der betreffenden Rechtsgemeinschaft einschließlich der wissenschaftlichen rechtlichen Weltanschauung) 305 ist die Rechtsord- nung ein lebendiges Gebilde, das entsteht, sich ändert und stirbt. Einzelne neue Normen als Objektivationen des tragenden objektiven Rechtsgeistes modifizieren den bisherigen objektivierten Rechtsgehalt wesensnotwen- dig dadurch, dass sie die alten Normen der Rechtsordnung, die mit ihnen in Widerspruch stehen, begrenzen oder überhaupt aufheben. Nicht nur die Rücksicht auf Phänomene, auf uralte Erfahrung, sondern das Wesen der Rechtsordnung als einer besonderen Verbindung des objektivierten Rechtsgeistes mit dem objektiven Rechtsgeist, die Rechtsordnung selbst als ein lebendiges Gebilde, schließt durch ihr Wesen die Geltung des Grund- satzes lex posterior non derogat priori aus. Jede solche Bestimmung wird schließlich durch die ontologische Lebendigkeit der Rechtsordnung hinweggefegt. 305 Kubeš: Die Grundfragen der Philosophie des Rechts (1977). 151","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Meiner Meinung nach gibt es bei Kelsen und gewissermaßen auch bei Weyr zwei Gründe für die unrichtige Auffassung, dass der Grund- satz lex posterior derogat priori ein rechtspositiver Grundsatz ist und dass der Gesetzgeber auch das Gegenteil anordnen kann. Erstens reihen beide Denker das Recht in die ideale Welt ein. Die ideale Welt kennt keine Kategorie der Zeit. Der zweite Grund liegt in der Behauptung Kelsens von der vermeintlichen Alogizität des Rechtsmaterials (der Gesetze, Ver- ordnungen, Urteile usw.). 5. Im Grunde genommen teilen beide Denker denselben Stand- punkt zum Problem des Völkerrechts. 306 In Anlehnung an Kelsen sagt Weyr: „Die Rechtsordnung als ein Inbegriff von Normen bestimmter Art ist nicht nur eine normative Einheit, sondern bildet auch eine Einheit als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis. Allgemein ist dieser Grundsatz seit lan- gem anerkannt, wenn auch sehr oft nur unbewusst. Dieser Grundsatz bedeutet, dass bei der Erkenntnis eines bestimmten Normeninbegriffes (z.B. der tschecho- slowakischen Rechtsordnung) die Existenz und der Inhalt anderer ähnlicher Normeninbegriffe (z.B. der französischen, deutschen usw. Rechtsordnung) für das erkennende Subjekt vollkommen irrelevant sein muss, d. i. diese Inbegriffe existieren für das erkennde Subjekt nicht. Das wurde und wird allgemein als selbstverständlich anerkannt, doch wird in einigen Fällen gegen jenen Grundsatz gesündigt. Als bekannteste Beispiele dieser Art kann einerseits die naturrecht- liche Doktrin angeführt werden, soweit sie lehrt, dass die aus der positiven Rechtsordnung geschöpften Erkenntnisse – regelmäßig iuris corrigendi gra- tia – durch den Inhalt der naturrechtlichen Ordnung korrigiert werden sollen, wobei beide Ordnungen als grundsätzlich selbständige, d. i. souveräne Inbe- griffe angesehen werden; anderseits die Doktrin des Völkerrechts, soweit auch sie von einer ähnlichen Voraussetzung (der Selbständigkeit der innerstaatli- chen und der internationalen Rechtsordnung) ausgeht, trotzdem aber meint, dass es erlaubt sei, gleichzeitig vom Standpunkt dieser beiden Ordnungen anzu- gehen, wie es geschieht, wenn einem bestimmten Pflichtsubjekt (einem Organ), 306 Kelsen: Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts (1920), 2. Aufl. (1928); Weyr: Soudobý zápas o nové mezinárodní právo [Der zeitgenössische Kampf für das neue Völkerrecht] (1919); derselbe: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 96 ff. 152","C: Das Werk das als Pflichtsubjekt, nur vom Standpunkt eines bestimmter Normenkomple- xes, z. B. als Staatsoberhaupt, erscheint, gleichzeitig Funktionen und Pflichten, die aus einem anderen selbständigen Normeninbegriff, sc. dem internationalen, fließen, zugerechnet werden. Diese Konstruktion des Völkerrechts oder der inter- nationalen Rechtsordnung als eines selbständigen Normeninbegriffes neben einer ebenso selbständigen innerstaatlichen (jedweden) Rechtsordnung, kann man dualistisch nennen. Gegen sie steht die monistische Konstruktion, die sich bewusst ist, dass unter der Voraussetzung der Selbständigkeit (Souveräni- tät) der innerstaatlichen Rechtsordnung – normativ verstanden – keine andere Rechtsordnung gleichzeitig existieren – normativ verstanden – kann, also auch nicht die völkerrechtliche Rechtsordnung, soweit man sie ebenfalls als selb- ständigen (souveränen) Normeninbegriff voraussetzt. Wenn daher der Inhalt beider Ordnungen gleichzeitig gelten soll, muss eine normative Beziehung her- gestellt werden, und zwar so, dass eine der beiden Ordnungen der anderen untergeordnet wird und dadurch ihre Selbständigkeit (Souveränität) in Bezug auf die übergeordnete verliert und dann ein bloßer Teilnormeninbegriff wird. Wenn so die völkerrechtliche Rechtsordnung souverän bleibt, kann man vom Primat des Völkerrechts sprechen, im entgegengesetzten Fall spricht man vom Primat des innerstaatlichen Rechtes. Die Wahl dieses oder jenes Standpunktes wird von der konkreten Regelung in den innerstaatlichen Rechtsordnungen und von der völkerrechtlichen Rechtsordnung abhängen. Wo man z. B. keine Spur einer vom Verfassungsgeber beabsichtigten Beschränkung des souveränen inner- staatlichen Gesetzgebungsorgans findet, wo daher nach der innerstaatlichen Rechtsordnung unbestritten der Grundsatz gilt, dass alles das Recht ist, was der Gesetzgeber beschließt, auch wenn es inhaltlich jedweden anderen Normen, also z. B. auch den völkerrechtlichen, widerspricht, wenn nur der Gesetzgeber dabei die diesbezüglichen innerstaatlichen prozessualen Vorschriften einhält, dort wird sicher eher die Konstruktion des Primats des innerstaatlichen Rechts (der innerstaatlichen Rechtsordnung) passen. Wo im Gegenteil der innerstaatli- che Verfassungsgeber den Willen ausdrückte, den innerstaatlichen Gesetzgeber, sei es den Verfassungsgesetzgeber oder den einfachen Gesetzgeber, auf diese oder jene Weise zu beschränken, also vor allem so, dass er ihm grundsätzlich die Fähigkeit abspricht, solche Normen zu setzen, die inhaltlich den Nor- men der völkerrechtlichen Rechtsordnung widersprechen würden, dort wäre 153","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) unbestritten eher die Konstruktion des Primates der völkerrechtlichen Rechts- ordnung am Platze. Unter der Voraussetzung des Primats, d. i. der Souveränität, der innerstaatlichen Rechtsordnung wird der Inhalt der völkerrechtlichen Nor- men ... dadurch ein Bestandteil der innerstaatlichen Rechtsordnung, dass die Organe dieser innerstaatlichen Rechtsordnung jenen Inhalt rezipieren, z. B. durch Genehmigung der völkerrechtlichen Verträge durch das innerstaat- liche Parlament oder das Staatsoberhaupt. Diese Rezeptionstheorie kann man auch Transformationstheorie nennen, weil sich durch diese Rezeption die völker- rechtlichen Normen in innerstaatliche Normen transformieren und die rechtliche Relevanz in solcher Weise rezipierter völkerrechtlicher Normen dann aus dem innerstaatlichen Brennpunkt, d. i. aus der innerstaatlichen Verfassung fließt“. 307 XI Privates und öffentliches Recht 1. Der Charakter einer Rechtsordnung drückt sich durch nichts so deut- lich aus wie durch das Verhältnis, in das sie öffentliches und privates Recht zueinander stellt, und durch die Weise, wie sie die Rechtsverhält- nisse zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht aufteilt. 308 Richtig ist die Feststellung von Kelsen, 309 dass der Begriff des Privatrechts vielfach als spanische Wand dienen müsse, hinter der sich Herrschaftsverhältnisse, wie das des Arbeitgebers, in Wahrheit also Verhältnisse öffentlich-rechtlicher Natur, verbergen. Vielleicht war das auch der Grund dafür, dass schon im Jahre 1908 310 gerade diese Frage im Mittelpunkt des Interesses von Weyr stand und 311 er diesen Dualismus heftig angriff und später bei Kelsen volle Unterstüt- zung fand. Hier sind sich beide Denker vollkommen einig. 307 Weyr: l. c., S. 96 ff. 308 Radbruch: Rechtsphilosophie, 8. Aufl. (1973), S. 224; und von ihm zitierter Draht: Das Gebiet des öffentlichen und des privaten Rechts, Zeitschrift für soziales Recht, Jg. 3 (1931), S. 229 ff. 309 Kelsen: Archiv für Soz. Wiss. und Soz. Pol., Jg. 66 (1931), S. 495. 310 Weyr: Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv des öffentlichen Rechts (1908), S. 529 ff.; derselbe: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 179 ff. 311 Kelsen: Zur Lehre vom öffentl. Rechtsgeschäft, Archiv des öffentl. Rechts, Jg. XXXI (1913), S. 53 ff., 190 ff.; derselbe: Allgemeine Staatslehre (1925), S. 80 ff. 154","C: Das Werk 2. Es ist daher interessant, was Weyr im Jahre 1936 in seiner grundlegenden Schrift zu dieser Problematik sagte: „Keine der rechts- 312 wissenschaftlichen Unterscheidungen ist für die herrschende Rechtslehre so charakteristisch wie diese. In ihr spiegeln sich nämlich fast alle Fehler und methodische Vergehen jener Lehre. Es ist daher kein Zufall, dass die Säuberung, die die Normative Theorie durchführte, durch einen Angriff auf diese vermeint- lich grundsätzliche Unterscheidung eingeleitet wurde. Es versteht sich, dass auch sie aus der römischrechtlichem Theorie stammt, aus der sie in andere, spä- tere Rechtstheorien übernommen wurde. Und man muss ausdrücklich bemerken, dass es die Theorie war, die sie – wie alle übrigen ähnlichen Unterscheidungen – geschaffen hat und nicht etwa die normschöpfende Praxis, weil es die Kompetenz des empirischen Gesetzgebers überschreitet, ähnliche Unterscheidungen fest- zulegen, genauer: sie durch Festsetzung zu schaffen. Darüber, ob eine solche Unterscheidung existiert und worin sie besteht, kann man deswegen aus dem Inhalt konkreter Rechtsordnungen nichts ableiten. Die Begriffe des öffentlichen und des privaten Rechts, bzw. ihre Unterscheidung, müssten notwendiger- weise sog. Rechtswesensbegriffe sein, d. i. diese Unterscheidung müsste, wenn sie überhaupt existiert, für alle Rechtsordnungen gleich sein, was auch für andere ähnliche Begriffe (z. B. Staat, Recht, Rechtsnorm) gilt. Um diese Unterschei- dung bzw. um ihre Berechtigung geht es der wissenschaftlichen Kritik, die Kritik der Rechtstheorie sein will. Ein anderes Problem, und zwar im Wesen ein Inter- pretationsproblem bzw. ein Rechtsinhaltsproblem, wäre es festzustellen, was sich dieser oder jener empirische Gesetzgeber, wenn er die Ausdrücke ‚öffentli- ches Recht‘ und ‚privates Recht‘ oder ‚öffentlich-rechtlich‘ und ‚privatrechtlich‘ verwendet, vorstellte. Unter diesem Gesichtspunkt kann dann allerdings eine ganze Reihe von Begriffen des öffentlichen und des privaten Rechts nebenein- ander bestehen, also für jede empirische Rechtsordnung separat, ja für jede Norm dieser oder jener empirischen Rechtsordnung kann ein anderer Begriff gelten. Über ihre Richtigkeit vom Standpunkt der allgemeinen Rechtslehre ist dadurch allerdings nichts gesagt. In diesen Begriffen denken offenbar, ohne sich dessen bewusst zu sein, alle jene, die die Argumentation der Normativen Theo- rie nicht widerlegen könnend, letzten Endes gegen sie einfach einwenden, dass 312 Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936), S. 179 ff. 155","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) dieses oder jenes Recht, d. i. die Rechtsordnung (z. B. die österreichische, deut- 313 sche, römische), von jener Unterscheidung ‚ausgeht‘, sie ‚anerkennt‘ u. ä. Die Normative Theorie ist aber nur eine, allgemeine, nicht spezifisch auf das tsche- choslowakische, deutsche, italienische, französische Recht, das sich vielleicht noch dazu zeitlich … ändern könnte, bezogene Theorie, so dass für sie wenn überhaupt, nur eine einzige Unterscheidung zwischen öffentlichem und priva- tem Recht existieren kann und ihre Geltung kann weder örtlich noch zeitlich beschränkt werden. Von dieser Unterscheidung handeln offenbar auch ver- schiedene Theorien in der geläufigen Rechtslehre, die sie in diesem oder jenem erblicken. Obgleich sie sich in Einzelheiten sehr unterscheiden, kann man sie doch grundsätzlich in zwei Gruppen einteilen: die eine geht von dem Gedanken aus, dass eine Norm entweder im Interesse aller, oder wenigstens mehrerer Leute (publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat; privatum quod ad sin- gulorum utilitatem), oder dem Interesse des Einzelnen dient; die zweite meint, dass die einzelnen Rechtsverhältnisse (die Beziehungen zwischen den einzelnen Rechtssubjekten) entweder auf der Grundlage der rechtlichen Gleichheit dieser Subjekte – d. i. der Typus des privatrechtlichen Verhältnisses – geregelt wer- den können, oder einem von beiden im Rechtsverhältnis beteiligten Subjekten ein größerer oder kleinerer rechtlicher Wert zuerkannt werden kann, der Typus des öffentlich rechtlichen Verhältnisses. Die Unhaltbarkeit dieser beiden grund- sätzlichen Positionen allgemein zu beweisen, war für die Normative Theorie 314 nicht schwierig; die eigentlichen Ursachen aber, die die geläufige Rechtslehre zu ihren fehlerhaften Konstruktionen führte, zu erklären, gelang ihr erst später“. 313 Weyr: O pojem veřejnoprávní korporace. Metodologické poznámky k stejnojmen- nému spisu dra J. Matějky [Über den Begriff der öffentlich rechtlichen Korporation. Methodologische Bemerkungen zur gleichnamigen Schrift des Dr. J. Matějka], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. XIII (1930). 314 Weyr: Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv des öffentlichen Rechts (1908); derselbe: Příspěvky k teorii nucených svazků [Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände] (1908); Kelsen: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1923), Vorrede zur zweiten Auflage S. VIII; derselbe: Allgemeine Staatslehre (1925), S. 80, 241; derselbe: Zur Lehre vom öffentlichen Rechtsgeschäft, Archiv des öffentlichen Rechts (1913); Krabbe: Die Lehre von der Rechtsouveränität (1906), S. 42. 156","C: Das Werk 3. Im Gegensatz zu dieser negativen Auffassung der Normativen Theo- rie meint Radbruch, dass die Begriffe „privates“ und „öffentliches“ 315 Recht nicht positiv-rechtliche Begriffe seien, die einer einzelnen positi- ven Rechtsordnung ebenso gut fehlen könnten, sondern dass sie vielmehr logisch jeder Rechtserfahrung vorangehen und für jede Rechtserfah- rung von vornherein Geltung haben. Nach Radbruch sind sie apriorische Rechtsbegriffe, und zwar in dem Sinn, dass in Bezug auf jeden einzelnen Rechtssatz sinnvoll die Frage gestellt und die Antwort verlangt werden kann, ob er dem privaten oder dem öffentlichen Rechte angehöre. 316 4. Nach der Meinung von Julius Moór geht es um apriorische Rechts- begriffe, um Rechtswesensbegriffe, um reine Rechtsbegriffe. Die Gründe dafür sind folgende: man kann sich keine Rechtsordnung vorstellen, die sinnvoll aus absolut allen Lebensverhältnissen jede Autonomie der Pri- vatleute ausschließen und alles der öffentlich-rechtlichen Regelung unterordnen könnte. Man kann nicht z. B. Sexualverhältnisse öffentlich- 317 rechtlich normieren und sie als Staatsfunktionen begreifen. Die Frage der Zeugung und Erhaltung der Art erfordert unbestritten, dass sie als pri- vate Tätigkeit geregelt wird. Wenigstens gewisse Einzelheiten der zum Bereich der Zeugung gehörenden Tätigkeiten muss man der privaten Autonomie überlassen. Auch wenn sich die Lebensverhältnisse fortwäh- rend ändern und gewisse Fragen von der privatrechtlichen Regelung in die öffentlich-rechtliche Regelung übergehen, ist es unbedingt notwen- dig zu sehen, dass gerade die biologischen Grundlagen des sozialen Lebens, d. i. die Fragen der Selbsterhaltung und der weiteren Fortpflanzung, eine große Beständigkeit aufweisen und dass gerade diese Fragen von allen Rechtsordnungen als privatrechtliche normiert sind. Privatrechtlichen Charakter oder wenigstens privatrechtliche Elemente zeigen auch alle rechtlichen Regelungen menschlicher Verbindungen, etwa des einfachs- ten Vertrags und auch jene die Rechtsfähigkeit, oder die Menschenrechte 315 Radbruch: l. c., S. 220 ff. 316 Moór: Öffentliches und privates Recht, Revue internationale de la Théorie du Droit, Jg. XII (1938), S. 10 ff.; derselbe: Das Rechtssystem, l. c., Jg. XIII (1939), S. 1 ff. 317 Moór: Das Rechtssystem, l. c., S. 1 ff. 157","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) usw. betreffen. Der entscheidende Grund für die Apriorität dieser Rechts- wesensbegriffe besteht daher in der Tatsache, dass jede Rechtsordnung der Welt gewisse Bereiche der privaten Autonomie und Initiative überlas- sen muss. Einen gewissen, wenn auch noch so geringen Bereich, muss jede Rechtsordnung als einen privatrechtlichen regeln. 5. Der Kampf um die Unterscheidung zwischen privatem und öffentli- chem Recht ist offensichtlich noch nicht zu Ende geführt. Man muss viel tiefer in die Problematik gehen, und findet vielleicht dann, dass gerade diese Problematik am engsten mit den Grundfragen des Rechtsstaates, des Rechts contra humanitatem und des Verhältnisses von Recht und Revolu- tion zusammenhängt. Jedenfalls ist eine streng immanent-positivistische Stellungnahme nicht imstande, alle diese Grundfragen zu lösen. XII Die Arbeit beider Denker an der Vorbereitung der Verfassungsentwürfe 1. Es ist allgemein bekannt und wurde auch hier schon angedeutet, dass Kelsen in hervorragender Weise an der Vorbereitung der Verfassung der Republik Österreich tätig war und dass Weyr einer der bedeutendsten Mitarbeiter an der Ausarbeitung der Verfassung der tschechoslowaki- schen Republik von 1920 war. Hier möchte ich zuerst noch auf folgende bis jetzt in der Tschechoslo- wakei nicht bekannte Tatsache hinweisen, die aber Métall ausdrücklich in seinem Buch Hans Kelsen, Leben und Werk erwähnt hat: Im Jahre 1938 waren die politischen Verhältnisse in der Tschecho- slowakei sehr angespannt. Die in der ČSR lebenden und unter größtem nationalsozialistischen Einfluss stehenden deutschen Bewohner erhoben immer größere und größere Ansprüche. Aber auch die unter dem Einfluss der slowakischen klerikalen Partei Hlinkas stehenden Bewohner der Slo- wakei wollten immer größere „Selbständigkeit“ erreichen. Als Kelsen die Stelle eines Ordinarius für Völkerrecht an der juristi- schen Fakultät der deutschen Universität antrat, hat er Dr. Edvard Beneš, 158","C: Das Werk 318 dem damaligen Präsidenten der Republik, einen Entwurf für eine neue verfassungsrechtliche Ordnung des Staates auf föderalistischer Basis vorgelegt, um den deutschen und slowakischen Ansprüchen in vernünf- tiger Weise zu entsprechen. Beneš hat aber damals diesen Gedanken nicht aufgenommen. Etwas später hat Kelsen einen von Beneš entsandten tschechischen Diplomaten empfangen, der Kelsen Beneš‘ Wunsch ausrichtete, den ent- sprechenden Entwurf für die neue verfassungsrechtliche Regelung der Republik auszuarbeiten. Leider war es damals schon zu spät. Jetzt sieht man zwar klar, dass die damaligen Entwürfe Kelsens die deutschen Ansprüche nicht befriedigt hätten, jedenfalls aber muss man Kelsens Gefühl für die reale politische Situation bewundern. 2. Es ist angebracht, hier die unermüdliche Mitarbeit Weyrs an der Vor- bereitung der neuen Verfassung (nach der Befreiung der Republik im Jahre 1945) zu erwähnen. Die verfassunggebende Nationalversamm- lung hat anfangs des Jahres 1947 vierzehn Experten für die Ausarbeitung des Entwurfes der neuen Verfassung ernannt. Unter diesen Experten waren auch Weyr und ich. Weyr war damals schon schwer herzkrank. Das war aber für ihn kein Hindernis. Seine Energie, seine tiefe Kenntnis der Problematik, seine großen Erfahrungen und seine ständige Bereitwil- ligkeit wurden von allen, auch von seinen Gegnern, aufrichtig bewundert. Er war fast in allen Sitzungen des Expertenausschusses anwesend und immer sehr aktiv. Die Mehrheit des Expertenausschusses hat schließlich zu Ende des Jahres 1947 einen Entwurf der neuen Verfassung ausgearbei- tet und darüber abgestimmt. Am Ende des Jahres 1947 habe ich dann auf der Grundlage dieser Arbeit der Mehrheit des Expertenausschusses einen neuen Entwurf der neuen Verfassung mit einem Kommentar in meinem Buch O novou ústavu [Um die neue Verfassung] mit voller Zustimmung, ja Mitwirkung von Weyr veröffentlicht. 318 Beneš war damals Präsident der Republik und nicht – wie Métall anführt – Ministerpräsident. 159","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Dieser Entwurf der „Verfassungsurkunde der tschechoslowaki- schen Republik“ enthält in folgender Reihenfolge: Präambel, Allgemeine Bestimmungen, Gesetzgebungsgewalt, die Zusammensetzung und Zuständigkeit der Nationalversammlung und der drei Landtage, die Bestimmungen über den Präsidenten der Republik, über die Regierung der Republik und die Landesregierungen, über die Nationalausschüsse und andere Verwaltungsorgane, die Bestimmungen über die rich- terliche Gewalt, die sehr bedeutenden Bestimmungen über die „bürgerlichen Grundrechte, Freiheiten und Pflichten, soziale und wirt- schaftliche Rechte“ und die Bestimmungen über das Verfassungsgericht und die Schlussbestimmungen. 319 Im Kapitel über die Grundrechte und Grundpflichten waren absichtlich die bürgerlichen Grundrechte, Freiheiten und Pflichten mit den sozia- len und wirtschaftlichen Rechten zusammengefasst. Es sollte dadurch der Grundgedanke ausgedrückt werden, dass wir im Sinne dieser Verfas- sung die Demokratie auch auf dem Feld der Wirtschaft und im sozialen Bereich durchgeführt haben wollen, allerdings so, dass diese Demokratie im Einklang mit der politischen Demokratie wäre. Dieses Kapitel behan- delt: Gleichheit, persönliche Freiheit und Hausrecht, Briefgeheimnis, politische Rechte und Freiheiten einschließlich der Bestimmungen über die politischen Parteien, ferner Informationsrechte, Freiheit des Gewis- ses und des Bekenntnisses, ferner soziale und wirtschaftliche Rechte und schließlich die sehr wichtigen Bestimmungen über den Schutz der bür- gerlichen Rechte und Freiheiten. Ausdrücklich wurde hier gesagt, dass die Bürger in ihrem Handeln frei sind, soweit sie nicht durch Gesetz beschränkt werden, und dass es den öffentlichen Organen erlaubt ist, gegen Bürger nur dann einzuschreiten, wenn sie dazu durch das Gesetz ermächtigt sind. Es wurde hier auch eine wirksame Sanktion ausgedrückt, die darin einmal besteht, dass die Nationalversammlung, besonders ein Sonderausschuss dieser Nationalversammlung, darauf achtet, dass kein öffentliches Organ Einschränkungen der bürgerlichen Rechte oder Frei- heiten begehe, und dass jeder, dessen Rechte oder Freiheiten verletzt 319 Kubeš: O novou ústavu [Um die neue Verfassung] (1948), S. 51 ff. 160","C: Das Werk wurden, bei Gericht gegen den, der bei der Ausübung seines Amtes oder seiner Funktion absichtlich oder grob fahrlässig den Schaden verursacht hat, Schadensersatz geltend machen kann, und dass im Falle der Unein- bringlichkeit der Staat haftet. Zu diesen beiden Sanktionen kam noch eine dritte Sanktion hinzu, die im nachfolgenden Kapitel normiert war, wo festgesetzt wurde, dass auch das Verfassungsgericht Garant der durch die Verfassung verbürgten Rechte und Freiheiten ist. Das waren drei besondere Garantien, die der bisherigen Verfassung unbekannt waren. Das Verfassungsgericht sollte im Ganzen dreierlei Funktionen haben. Erstens sollte es Garant des gesamten hierarchischen Stufenbaues der Rechtsordnung sein und darauf achten, dass die Gesetze durch ihren Inhalt nicht den Verfassungsgesetzen widersprechen, weiter, dass die Lan- desgesetze sich im Rahmen der Gesetze bewegen usw. Die zweite Funktion des Verfassungsgerichtes bestand in der Kontrolle der Übereinstimmung der Vorschriften über politische Parteien mit den demokratischen Prinzi- pien. Die dritte Funktion war jene des Garanten der verfassungsmäßigen bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Das Verfassungsgericht sollte über Beschwerden von natürlichen oder juristischen Personen entscheiden, ob ein durch die Verfassung garantiertes Recht (eine Freiheit) verletzt worden war, soweit nicht ein ordentliches Gericht darüber zu entscheiden zuständig war. 161","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) D AUSBLICK I Die Notwendigkeit neuer philosophischer Fundierung 1. Vor allem muss man mit Entschiedenheit die Auffassung einiger Rechtstheoretiker abweisen, dass es möglich, ja wünschenswert ist, die Rechtstheorie, ja sogar die Rechtsphilosophie, ohne jedwede Rücksicht auf philosophische Grundlagen zu betreiben. So z. B. war der grundlegende Ausgangspunkt des ganzen Werkes Hein- rich Henkels Einführung in die Rechtsphilosophie. Grundlagen des Rechts 320 der, die Rechtsphilosophie ohne Bindung an philosophische Richtungen zu begründen. Der Autor geht nämlich von der Überzeugung aus, dass die traditionellen philosophischen Systeme nicht mehr tragfähig sind und in der Gegenwartsphilosophie kein neues, tragbares Fundament zu erblic- ken ist. Diesen Ausgangspunkt kann man nicht für richtig halten. Ich bin zwar auch der Meinung, dass der Stand der Gegenwartsphilosophie einen wenig ermutigenden Ausblick bietet, keinesfalls aber bin ich der Ansicht, dass die Philosophie als solche von Grund aus „fragwürdig“ geworden oder gar 321 „am Ende angelangt“ ist. Die Unrichtigkeit dieser Auffassung von der Nicht-Notwendigkeit phi- losophischer Grundlagen kann man besonders klar an der Frage erkennen, ob eine Norm (Rechtsnorm) verifiziert oder falsifiziert werden kann oder nicht. Es wird gelehrt, dass sich Normen oder Sollsätze wesentlich von Aus- sagen unterscheiden und dass ihnen, im Gegensatz zu Aussagen, weder Wahrheit noch Falschheit zukommt. Es wird behauptet, dass die Norm, der Sollsatz nicht verifizierbar ist; für sie – so lautet die weitere Argumen- tation – gilt das principium exclusi tertii nicht. 322 320 Henkel: l. c., 2. Aufl. (1977), S. 5, 3, siehe aber auch S. 10. 321 Henkel: l. c., S. 3. 322 Dazu z. B. Kubeš: Die Logik im rechtlichen Gebiet, öZöR, Jg. 27 (1976), S. 283 ff. 162","D: Ausblick Heute existiert eine große deontologische Literatur, und besonders die Frage der Bewältigung der Sollsatzlogik mit den Mitteln der Aussagen- logik steht im Mittelpunkt des Interesses. Es ist interessant, dass diese Versuche oft in heftigem Widerspruch zueinanderstehen und dass sie bis jetzt ohne bedeutenden Erfolg geblie- ben sind. Es entsteht daher die Frage, ob es sich bei all diesen Versuchen nicht um einen gemeinsamen Grundfehler handelt. Meiner Meinung nach besteht dieser gemeinsame Grundfehler in der Tatsache, dass man an die Untersuchung dieser logischen Problematik ohne genügende phi- losophische Fundierung herantritt, besonders ohne vorangehendes gründliches Studium der kritischen Ontologie, die unbedingt auch allen logischen Untersuchungen vorangehen muss. Die rechtsontologischen Untersuchungen sind präjudiziell für alle übrigen Untersuchungen, besonders für rechtstheoretische, rechtslogische, rechtsmethodologische, aber auch rechtsaxiologische Untersuchungen. Während die (allgemeine) Ontologie die Wissenschaft vom Seienden im weitesten Sinne des Wortes ist, ist die Ontologie des Rechts (die Recht- sontologie), die Wissenschaft vom Sein, vom Wesen des Rechts, eine Lehre, wohin das Recht gehört, ob es in die ideale oder in die reale Welt gehört und wo dort sein Platz ist. Die Rechtsontologie ist der erste und wichtigste Teil der Rechtsphilosophie. Wenn man sich noch die Problematik der Verifizierbarkeit der Normen vergegenwärtigt, kommt man auf Grundlage der modernen kritischen Ontologie zu der Erkenntnis, dass der Kern des oben angeführten Grund- fehlers in der Unkenntnis des objektiven Geistes, besonders seiner Sphären, die die abgeleitete Normativität aufweisen, besteht. Die ganze Entwicklung in dieser Richtung von Hegel bis Nicolai Hartmann ist unbe- kannt oder wird ignoriert. Sonst würde man wissen, dass das objektive geistige Sein (der objektive Geist) mit seiner abgeleiteten Normativität ebenso real und, wenn auch mit größerer Schwierigkeit, erkennbar ist, wie die niedrigeren Schichten des stufenförmigen Baus der realen Welt (die anorganische, organische und seelische Schicht). 163","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) In den Normen, in den Sollsätzen, erkennen wir nämlich den objek- tiven Geist (den objektiven Rechtsgeist und den objektiven Moralgeist) abgeleiteter normativer Provenienz, ganz analog wie wir in Seinsurteilen (in Aussagen) das anorganische (physisch-materielle) Sein, das organi- sche Sein und das seelische Sein erkennen. Es ist also nicht richtig, die Normen (die Sollenssätze) als Gebilde zu begreifen, nach deren Wahrheit man überhaupt nicht fragen darf und kann und bei welchen es sich um etwas wesentlich anderes handelt, als wenn man Seinsurteile verifizieren will. Erst die auf das Rechtliche angewandte und weiterentwickelte kritische Ontologie hat gezeigt, dass der objektive Geist, der real und erkennbar ist, existiert, und dass im Rahmen dieses objektiven Geistes (besonders recht- liche und moralische) Sphären mit abgeleiteter Normativität existieren. Es handelt sich also um die Erkenntnis dieses objektiven geistigen rechtli- chen Seins. Die Antwort, die diesbezüglichen Normen (Sollsätze), in denen wir zur Erkenntnis des objektiven Rechtgeistes kommen, sind verifizier- bar; sie können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Die (wissenschaftliche) rechtliche Weltanschauung, dieser Stufenbau der einzelnen für das Rechtliche entscheidenden Ideen, mit der realen Rechtsidee an der Spitze, ist ein Bestandteil des objektiven Rechtsgeistes; sie gehört also in die reale Welt, und zwar auch in ihre höchste Schicht, in das geistige Sein. Auch hier handelt es sich also um ein Erkennen, auch hier erkennt der Rechtsnormenschöpfer. Auch seine Normen (Rechtssoll- sätze) sind verifizierbar und können als wahr oder unwahr charakterisiert werden. Der Unterschied zwischen dem Erkennen des objektivierten Rechtsgeis- tes (der Gesetze, Verordnungen usw.) und dem Erkennen des objektiven Rechtsgeistes (dem Rechtsbewusstsein des Volkes einschließlich der wis- senschaftlichen rechtlichen Weltanschauung) ist nur quantitativ, nicht qualitativ. Es ist leichter, die herausgegebenen Gesetze als die Rechts- überzeugung des Volkes zu erkennen. Der Grad der Sicherheit ist gewiss am kleinsten, wenn der Rechtsanwender (oder der „Rechtsschöpfer“) bis zur Normidee des Rechts rekurrieren muss. Immer aber handelt es sich um ein Erkennen. 164","D: Ausblick 2. Die Frage der philosophischen Grundlage der Reinen Rechtslehre ist offensichtlich von entscheidender Bedeutung. Die jetzige Grundlage ist nicht gerade klar. Was die Brünner Schule der Reinen Rechtlehre betrifft, war Weyr vom Anfang bis zum Ende immer der transzendentalen Philosophie Kants treu, er sah sie allerdings durch die Schopenhauersche Brille, die nicht die richtige war. Aus dem schon Gesagten sieht man, dass die Schopenhauersche Auffassung nicht tragbar ist. Der absolute, subjektive Idealismus Weyrs, von dem z. B. die von ihm angeführten Beispiele einer Norm zeugen – „Rosen sollen blühen“ oder „Es soll regnen“ – ist falsch und unfähig, das gigantische Gebäude der Rei- nen Rechtslehre zu tragen. Pflichtsubjekt einer Norm kann nämlich grundsätzlich nur der Mensch als Subjekt und Person und keinesfalls ein Stück der organischen Natur (wie die Rose) oder sogar die anorganische Natur sein. Die Pflicht existiert nur im Rahmen des geistigen Seins. Nicht so einfach liegt die Situation bei Kelsen. Es scheint manch- mal so, dass bei ihm die philosophische Grundlage immer erst später in seine Theorie hineingelegt wurde. So z. B. trat der Marburger Neukan- tianismus Hermann Cohens im Jahre 1912 als philosophische Grundlage zu der ganzen, in den Hauptproblemen 1911 konzipierten Normativen Theorie hinzu. Die Cohensche transzendentale Philosophie mit der abso- luten Akzentuierung der Spontaneität der Vernunft, mit der Negation des Dings an sich und mit ihrer Abwendung vom Objekt ist unrichtig, was man in der Anwendung dieser Auffassung Kelsens durch ihn auf die analoge Behandlung der Natur und des Rechts sieht, was schließlich zu der Behauptung von der Alogizität des Rechts führte. Diese philosophi- sche Grundlage Cohens führte sichtlich auf einen Irrweg und war nicht imstande, eine richtige und passende philosophische Grundlage zu bieten. Dann aber erschienen immer neue philosophische Strömungen, die Kelsen beeinflussten. Zuerst war es die Phänomenologie Husserls, besonders seine Konstruktion der Grundnorm, die aber nicht fähig ist, das zu leisten, was Kelsen von ihn erhoffte. Aber auch die positivistische „Philosophie“, der Positivismus, der von Anfang an für die Normative Theorie (die Reine Rechtslehre) bestimmend 165","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) war, und später vielleicht der Neopositivismus (Moritz Schlick, Rudolf Carnap, Ludwig Wittgenstein) waren keine geeignete Fundierung für das stolze Gebäude der Reinen Rechtslehre. Man sieht nämlich immer kla- 323 rer die Richtigkeit der Feststellung von Hans Vaihinger, dass es dem Positivismus niemals gelingen wird, ein Geschlecht oder ein Volk zu jener geistigen Erhebung über das Wirkliche zu befähigen, die der Anfang aller inneren Größe ist. Alles Relative, alles Positive weist eine nie aufhörende Tendenz zum Absoluten auf. Auf der Grundlage des Positivismus sind sol- che zentrale Fragen wie die Frage nach dem Ursprung und nach der Natur des Sollens, die Frage nach dem Konflikt zwischen dem reinen Sollen (den nicht objektivierten Normideen, deren Stimme der personale Geist mit unermesslicher Eindringlichkeit begreift), und dem abgeleiteten Sollen, z. B. der kodifizierten, also objektivierten Rechtsordnung, die ungemein wichtigen Fragen des Verhältnisses des Rechts und der Revolution oder des Rechts contra humanitatem überhaupt nicht lösbar. Später waren es die amerikanischen Verhältnisse und besonders die amerikanische analytische Schule, die auf Kelsen einen sicher gro- ßen Einfluss hatten. Die Relativierung des Gegensatzes des Seins und des Sollens ging weiter. Die Form der Verknüpfung beider Tatbestände, die entweder im „ist“ oder im „soll“ besteht, erscheint rein formalistisch und letztlich ohne Bedeutung zu sein. Zuletzt stand Kelsen unter der Wirkung von W. Dubislav und viel- leicht auch der Uppsala-Schule. In seinen letzten Arbeiten ist Kelsen zu den bekannten Feststellungen gekommen, wie z. B. dass eine Norm einen „Imperator“ voraussetzt. Man kann sich aber auch nicht mit der einfachen Auffassung Kelsens zufriedengeben, dass „der Unterschied zwischen Sein und Sollen nicht näher erklärt werden kann“ und dass „er unserem Bewusstsein unmittelbar gegeben ist“. 324 Die Gesamtsituation der philosophischen Basis war also bei Kelsens Tode weder klar, noch befriedigend. 323 Vaihinger: Annalen der Philosophie (1919); dazu Kubeš: Die Rechtspflicht (1981). 324 Kelsen: Reine Rechtslehre, 2. Aufl. (1960), S. 5. 166","D: Ausblick 3. Die grundlegende Frage, welche philosophische Richtung als Grundlage der Schule der Reinen Rechtslehre die passendste wäre, steht also vor uns. Eine Zeit lang wurde z. B. auch die existentialistische Philosophie Martin Heideggers, genauer sein Werk Sein und Zeit als die richtige 325 philosophische Grundlage angesehen; so z. B. von Werner Maihofer. 326 Heideggers ontologische Grundfrage nach dem Sein des Seienden wird bei Maihofer zur Frage nach dem Sein des Rechts. Die Antwort wird ausgehend von Heideggers Grundexistential (Existentialen sind, parallel zu den ding- haften Kategorien, die Grundverfassungen des Menschen, des „Daseins“) = des In-der-Welt-Seins-aus, als „Analytik des Im-Rechts-Seins“ gesucht. 327 Schon hier begegnete man aber einer Schwierigkeit. Wie Johannes Thyssen 328 und auch Vilmos Peschka richtig bemerken, wurde die ganze 329 „öffentliche Welt“ von Heidegger zu einer Sache des „man“ gemacht, das eigentliche Sein des Menschen nur im Selbst des Einzelnen gesehen, und damit wird auch das Recht zu einem „Adiaphoron“, das für das eigent- liche Sein des Menschen „auch nicht mehr mittelbar werthaft“ ist. 330 Die existentialistische Grundlage Heideggers ist für das Recht einfach unpas- send. Maihofer selbst will einerseits auf dem existentialistischen Boden bleiben, anderseits muss er aber der Seite des Gemeinsamen, des Nicht- individuellen, Raum geben. Das tut er durch ein zweites eigentliches Sein, das er das „Als-sein“ nennt. Dies stellt er als zweites Existential neben das Existential des Selbst-seins. Damit allerdings überschreitet er die Grenzen der existentialistischen Philosophie und schließlich steht 325 Heidegger: l. c., (1927); Kubeš: Právní filozofie 20. století [Die Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts] (1947), S. 109, 128 ff.; Thyssen: Zur Rechtsphilosophie des Als-Seins, ARSP 43 (1957), S. 87 ff., jetzt auch in: Kaufmann (Hg.): Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 328 ff.; Cohn: Existentialismus und Rechtswissenschaft (1955) und dazu Kelsen: Existentialismus in der Rechtswissenschaft, ARSP 43 (1957), und Verdross: Abendländische Rechtsphilosophie, 2. Aufl. (1963), S. 234 ff. 326 Maihofer: Recht und Sein (1954); derselbe: Vom Sinn menschlicher Ordnung (1956); Thyssen: l. c., S. 323 ff., Peschka: Grundprobleme der modernen Rechtsphilosophie (1974), S. 192 ff., 205 ff.; Verdross: l. c., S. 233 ff. 327 Maihofer: Recht und Sein (1954), S. 15. 328 Thyssen: l. c., S. 87 ff., jetzt auch in: Kaufmann (Hg.): l. c., S. 329. 329 Peschka: l. c., S. 205 ff. 330 Maihofer: l. c., S. 22 ff. 167","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) seine Konzeption zu dieser Philosophie im Widerspruch, wenn er neben der eigenen Existenz des Individuums noch eine eigene gesellschaftliche Existenz annimmt. 331 Was Heideggers eigene Ausführungen über das Recht betrifft, so muss 332 man mit Antonio Villani feststellen, dass das Denken Heideggers über das Recht unmissverständlich und bestürzend zugleich ist. Vollkommen Recht hat Villani mit seiner Feststellung, dass von der ontologischen Cha- 333 rakterisierung der existentialen Sorge hergesehen, das Recht, der ganze Prozess der Bildung der rechtlichen Erfahrung, nur ein Fremdkörper, ja ein Gegensatz zu dem konstitutiven Prozess sein kann, in dem sich das 334 Dasein befindet. Mit Recht macht Villani auch darauf aufmerksam, dass seit dem Erscheinen des ersten Teiles von Sein und Zeit das Denken Heideg- gers ohne Zweifel eine Wandlung durchgemacht hat. Letzten Endes findet man aber bei Heidegger eine gänzliche Unfähigkeit des „Im-Recht-seins“, die „Uneigentlichkeit“ des „In-der-Welt-seins“ zu überwinden und zu bewältigen. 335 Eine besondere Form der Anwendung der Existenzphilosophie auf das Recht stellt die egologische Konzeption dar, die von Carlos Cossio 336 entwickelt wurde. Allerdings hatten auch andere philosophische Konstruktionen auf die Auffassung von Cossio einen großen Einfluss, besonders die Logik Edmund Husserls und die Reine Rechtslehre Kel- sens. Das Recht ist für Cossio ein egologischer Gegenstand. Das Recht ist die Handlungsweise, die zur Erscheinung gewordene metaphysische Frei- heit. Mit Hilfe von Heideggers Philosophie und Husserls Logik will Cossio den Begriff eines „existentiellen Sollens“ finden, womit er das Wesen der Freiheit ausdrücken will, in der die Handlung, also nach ihm auch das Recht, besteht. 331 Peschka: l. c., S. 192. 332 Villani: Heidegger und das „Problem“ des Rechts. In: Kaufmann (Hg.): l. c., S. 350 ff., 354 ff. 333 Villani: l. c., S. 371 ff. 334 Villani: l. c., S. 389. 335 Villani: l. c., S. 401. 336 Cossio: La teoría egológica del Derecho y el concepto jurídico de libertad (1944); derselbe: El Derecho judicial (1945); derselbe: Norma. Derecho. y Filosofia (1946); derselbe: Panorama de la teoría egológica del Derecho (1949); derselbe: Los velores juridicos, Anuario de Filosofia del Derecho (1956); dazu Lacambra: Rechtsphilosophie (1965), S. 181 ff. 168","D: Ausblick Meiner Meinung nach bildet die existentialistische Philosophie, besonders die von Heidegger in Sein und Zeit dargelegte keine geeignete Grundlage für das Erfassen des Wesens des Rechts. Die ganze existentiali- stische Richtung ist im Grunde genommen irrationalistisch, pessimistisch und vom Kern aus ungesund. Es ist unverständlich, warum gerade der Exi- stentialismus von Rechtsphilosophen als Grundlage gewählt wurde. Schon der absolute Bruch mit der gesamten philosophischen Tradition sollte warnend wirken. Die Grundthese des Existentialismus lautet nämlich, dass die philosophische Entwicklung seit Platon und Aristoteles in die Irre ging und die philosophische Tradition daher ausgeschaltet werden muss. 4. In den modernen rechtsphilosophischen Auffassungen findet man einige, wenn auch zaghafte Versuche, die kritische Ontologie Nicolai 337 Hartmanns zu benutzen. So arbeitet z. B. schon Erich Fechner mit ver- schiedenen Seinsschichten. Nach Helmut Coing 338 ist die Rechtsordnung ein geistiges Sein, und zwar ein objektiviertes oder ein fixiertes Sein, d. h. ein in einem Text niedergelegter geistiger Gehalt. Luis Legaz y Lacam- bra stellt mit Recht fest, dass das ontologische Problem das Wesentliche 339 der Rechtsphilosophie ist. Nach Legaz ist es die letzte und eigentliche Aufgabe der Rechtsphilosophie, „die Seinsweise des Rechtes und seine Wert- komponenten aufzuweisen; deshalb untersucht sie seinen metaphysischen Sinn als Wirklichkeit des menschlichen Lebens, welche in der Freiheit begründet ist, die sozialen Verhaltensformen schafft und das suum der Person in einer vernünf- tigen Ordnung des Zusammenlebens garantiert“. 340 Keinesfalls aber wurde die rechtsphilosophische Auffassung Legaz‘ von der modernen kritischen Ontologie Nicolai Hartmanns entscheidend beeinflusst. Andere Philo- sophen hatten auf ihn einen entscheidenden Einfluss, und zwar Ortega 342 y Gasset und Xavier Zubiri. Das Wesen des Rechts ist bei Legaz wesent- 341 lich in der katholischen naturrechtlichen Konzeption verankert. 337 Fechner: Rechtsphilosophie (1956), S. 196 ff.; vgl. Peschka: l. c., S. 205 ff. 338 Coing: Grundzüge der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. (1966), S. 110, 121, 169 ff., 287 ff. 339 Legaz: Rechtsphilosophie (1965), S. 42 ff. 340 Legaz: l. c., S. 44. 341 Ortega: La rebelión de las Sassas (1929); Legaz: l. c., S. 255. 342 Zubiri: Naturaleza, Historia, Dios (1944); vgl. Legaz: l. c., S. 23, 26 ff., 250 ff., 252 ff. 169","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) In diesem Zusammenhang muss man auch die Auffassung von René 343 Marcic anführen. Dazu muss man allerdings bemerken, dass die Rea- 344 lität der Normen nichts mit ens ideale zu tun hat. Die Rechtsnormen gehören nicht in die Welt der Idealität, sondern in die Welt der Reali- tät. Die Auffassung vom Wesen des Rechts bei Marcic geht sicher tief. Er begreift das Recht, besser gesagt das Naturrecht, gerade als Seinsrecht. Es sieht so aus, dass das Recht bei Marcic den eigentlichsten Kern des gan- zen Weltalls darstellt. Das ist aber schon eine „Metaphysik“ des Rechts, die sich keinesfalls auf die Phänomene stützen kann. Marcic‘ Auffas- 345 sung des Rechts als Seinsrecht lehnt auch Verdross ab. Meiner Meinung nach ist die ganze ontologische Begründung des Rechts bei Marcic – und zwar besonders mit Rücksicht auf die moderne kritische Ontologie Nico- lai Hartmanns – unzureichend. Die Unterschiede in der Auffassung vom Wesen des Rechts bei Marcic einerseits, die ich in einer Reihe meiner eige- 346 nen Arbeiten andererseits vertrete, sind fundamental. 347 Auch Hans Ryffel ist in mancher Hinsicht von der kritischen Ontologie beeinflusst, ebenso wie Reinhold Zippelius. 348 Der Einfluss der kritischen Ontologie ist auch in der zweiten, im Jahre 1977 veröffentlichten Auflage des Werkes Heinrich Henkels Einführung in die Rechtsphilosophie, Grund- lagen des Rechts bemerkbar. Das Recht erscheint ihm als „Objektivation des Gemeingeistes“. Der Inhalt des objektiven Geistes und konkret 349 der Inhalt des objektiven Rechtsgeistes ist aber keineswegs etwas Unfass- bares und Unverstehbares. Auch dieser Inhalt ist etwas Reales, etwas Empirisches, was mit den rechtssoziologischen Methoden und Techniken festzustellen möglich ist. 343 Marcic: Rechtsphilosophie (1969). 344 Marcic: Rechtswirksamkeit und Rechtsbegründung. In: Merkl, Marcic, Verdross, Walter (Hg.): Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (1971), S. 89; derselbe: Einführung in die Rechtsphilosophie (1969), S. 17 ff., 93 ff., 118 ff. 345 Verdross: Rezension der „Rechtsphilosophie“ von René Marcic, öZöR (1970), S. 443. 346 Kubeš: Grundfragen der Philosophie des Rechts (1977); derselbe: Die Rechtspflicht (1981), und die dort zit. Abhandlungen. 347 Ryffel: Rechts- und Staatsphilosophie, Philosophische Anthropologie des Politischen (1969), S. 89 ff., 162 ff., 172 ff., 180 ff., 205, 372 ff., 380 ff. 348 Zippelius: Das Wesen des Rechts, 4. Aufl. (1969); derselbe: Rechtsphilosophie (1982), S. 41 ff., 52 ff., 152 ff., 170 ff., 219 ff. 349 Henkel: l. c., S. 186 ff., 203, 216, 220 ff. 170","D: Ausblick Gewiss sind manche Untersuchungen über das Wesen des Rechts zu wertvollen Ergebnissen gekommen. Dabei hat sich immer gezeigt, dass nur eine feste philosophische Unterlage zu besseren rechtsphilosophi- schen Perspektiven führt. Viel Wertvolles hat auch die neukantianische südwestdeutsche Philosophie und Rechtsphilosophie (Windelband, Rik- kert, Lask, Radbruch) gebracht, besonders aber die kritische Ontologie Hartmanns. Die neuen Versuche um Lösung des Wesens des Rechts und der Beziehung zwischen Sein und Sollen des Rechts von Fechner, Coing, Arthur Kaufmann, Ryffel, Zippelius, Henkel und Winkler bewegen sich in dieser Richtung. Meiner Meinung nach ist es aber notwendig, weiter auf der Linie der kritischen Ontologie zu gehen und zur „abgeleiteten Nor- mativität“ des komplex-dialektischen Phänomens des Rechts zu gelangen. Hier liegt – denke ich – der wahre Kern der „Normativität des rechtlichen Phänomens“, seiner „normativen Kraft“, der richtige Kern der Behauptung „ex facto ius oritur“, von welchem auch Cesarini Sforza 350 und Alessandro Baratta sprechen. 351 In mehreren Arbeiten habe ich zu zeigen versucht, dass eine tragfä- hige philosophische Richtung, die im 20. Jahrhundert erschien, da ist, an welche man anknüpfen und die man weiterentwickeln kann. Meine kritisch-ontologische Auffassung des Rechts geht grundsätzlich (aller- dings mit nicht unbedeutenden Ausnahmen) von der Philosophie Nicolai 352 Hartmanns und gewissermaßen auch von der transzendentalen Philo- sophie Kants aus. Auch die Lehren von Leonard Nelson, Gustav Radbruch und Alfred Verdross sowie die Heraklit-Hegel-Marx‘sche Dialektik sind an einigen Stellen des gesamten Systems angewendet. 350 Sforza: Idee e problemi di filosofia giuridica (1956); derselbe: Filosofia del Diritto, 3. Aufl. (1958); derselbe: Ex facto ius oritur, Studi in onore di G. Del Vecchio, Jg. I. (1930), S. 87 ff. 351 Baratta: Natur der Sache und Naturrecht. In: Kaufmann (Hg.): Die ontologische Begründung des Rechts (1965), S. 104 ff. 352 Siehe besonders Hartmann: Ethik, 1. Aufl. (1926), 5. Aufl. (1949); Das Problem des geisti- gen Seins, 1. Aufl. (1933), 2. Aufl. (1949); Zur Grundlegung der Ontologie, 1. Aufl. (1935), 3. Aufl. (1948); Systematische Philosophie in eigener Darstellung (1935); Der Aufbau der realen Welt (1942); Teleologisches Denken (1952). 171","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Meiner Überzeugung nach ermöglicht uns gerade diese philosophi- sche Grundlage, alle Grunderfordernisse zu erfüllen, die die breite Sphäre des Rechts gegen uns stellt. Es geht um folgendes: 1. Das Phänomen des Rechts ist etwas Reales und ist durch große Komplexität gekennzeichnet. Es zeigt sich, dass, wenn auch die Hauptdomäne des Rechts im geistigen Sein liegt, das ein reales Sein ist, es auch in die niederen Schichten der realen Welt eingreift. 2. Für das Phänomen des Rechts ist die Durchdringung der Faktizität und der Normativität charakteristisch. 353 3. Das Phänomen des Rechts (das vor allem objektivierter Rechtsgeist ist) tendiert zum objektiven Rechtsgeist (zum Rechtsbewusstsein des Volkes einschließlich der rechtswissenschaftlichen Weltan- schauung), also auch zur realen Idee des Rechts und schließlich zur idealen Normidee des Rechts, dieser dialektischen Synthese von Gerechtigkeit, Freiheit des konkreten Menschen, Sicherheit und Zweckmäßigkeit. 4. Jedes positive Wissen hat die Tendenz, absolutes Wissen zu sein. Jedes positive Recht hat die Tendenz, „richtiges“ (ideales) Recht zu sein (Nicolai Hartmann). Überall ist die Beziehung auf die Idee dem Positiven schon immanent. Sie ist die innere Bedingung des Cel- tens selbst. 5. Unsere Grundprämisse besteht in der optimistischen Welteinstel- lung. Ich gehe – zum Unterschied von Nicolai Hartmann – von der grundlegenden Voraussetzung aus, dass es bei den Individuen im Durchschnitt nicht nur um eine aufsteigende Tendenz zur Errei- chung der Vollkommenheit (zur Erreichung der Normideen, juristisch gesehen der Normidee des Rechts) geht, sondern auch im geschichtlichen Ausblick, mit Rücksicht auf die Menschheit als ein 353 Winkler: Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (1969); derselbe: Sein und Sollen, Rechtstheorie (1979); Kubeš: Die Rechtspflicht (1981), S. 101 ff. 172","D: Ausblick Ganzes. Ohne diese Voraussetzung ist jede wissenschaftliche Tätig- keit, ja das ganze menschliche Streben und daher auch das Leben undenkbar, ja widersinnig. 6. In dieser optimistischen Welteinstellung ist die Konstruktion zweier „Welten“ verankert. Neben der realen Welt, die sich als ein grandioser Aufbau der vier grundlegenden Seinsschichten (der anorganischen, organischen, seelischen und geistigen) darstellt, existiert, weil sie notwendig existieren muss, eine ideale „Welt“, das Reich der Norm- ideen mit der Normidee des Guten (der konkreten Menschlichkeit) an der Spitze, sowie mit den Normideen der Wahrheit und der Rich- tigkeit, der Sittlichkeit, des Rechtes und des Schönen. Der Mensch mit seinem „organ du coeur“, mit seiner Fähigkeit, die Stimme der Normideen, ihre kategorische Pflicht zu hören, mit seinem freien Willen, mit seiner Zwecktätigkeit, mit seiner Fähigkeit, die Pflich- ten der Normideen in der realen Welt bis zu einem gewissen Grad zu verwirklichen, ist der einzige bekannte Vermittler dieser zwei „Welten“. 7. Aus der Tragödie des Relativismus rettet uns die eben angedeu- tete grundlegende Voraussetzung, die auch durch das Sollen, durch die Pflicht, deren man sich im Urerlebnis des Gewissens bewusst ist, bestätigt wird. Der Mensch als Subjekt und Person überführt das Sollen und den Inhalt der Normideen und speziell der Normidee des Rechts aus der Welt der Idealität in die Welt der Realität, und zwar in die Schicht des geistigen Seins. Dadurch wird schrittweise die breite Sphäre des geistigen Seins, des persönlichen, des objek- tiven und des objektivierten Geistes und des Rechtsgeistes mit abgeleiteter Normativität gebildet. 8. Es besteht kein absoluter Unterschied zwischen der rechtlich-kognitiven und der rechtlich-volitiven Sphäre. Auch bei der rechtlich-volitiven Sphäre geht es im Grunde genommen um Erkenntnis. In den Soll- sätzen erkennen wir den objektiven Geist (Rechtsgeist) normativer Herkunft. 173","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) 9. Das Urproblem der Freiheit des Willens, ohne die man die Begriffe des Sollens, der Pflicht, der Norm, der Verantwortung, der Schuld überhaupt nicht denken kann, ist nur auf der Grundlage der kritisch-ontologischen Auffassung möglich zu lösen, ebenso wie auch andere Grundprobleme, besonders das Problem des Verhält- nisses des Rechts und der Revolution oder das Problem des Rechts contra humanitatem, nur auf dieser Grundlage lösbar sind. II Die Art und Weise der künftigen Zusammenarbeit 1. Das einzige Thema des Extraordinary World Congress of the International Association for Philosophy of Law and Social Philosophy (IVR), der in Sydney und Canberra, Australia, im August 1977 stattfand, war Law and the Future of Society [Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft]. 354 Hier wurde auch besonders dargetan, dass es von allen Normen- systemen allein das System der Rechtsnormen (die Rechtsordnung) ist, das als eine wirklich wirksame Ordnung das Zusammenleben der Men- schen zu garantieren imstande ist. Zu begreifen, was Recht überhaupt ist, was sein Wesen darstellt, was rechtliche Geltung bedeutet, ist nur möglich, wenn man sich der großen Kompliziertheit dieses Phänomens als eines Gebildes der realen Welt mit seiner Tendenz zur „idealen“ Welt bewusst wird und alle Folgerungen daraus zieht; das bedeutet, dass man bei der Aufrechterhaltung der Reinheit einzelner noetischer und ontolo- gischer Kategorien mit Hilfe der grundlegenden komplex-dialektischen Methode schließlich zum Wesen des Phänomens des Rechts gelangt. Weiter wurde hier gezeigt, dass das Recht und der Staat nicht iden- tifiziert werden dürfen. Der Staat als solcher kann in der Zukunft „absterben“; niemals wird aber das Recht „absterben“. Das „Absterben“ des Rechts würde den Untergang der menschlichen Gesellschaft bedeuten; auch die klassenlose Gesellschaft wird eine hohe Durchorganisierung und 354 Kubeš: Das Recht und die Zukunft der Gesellschaft, ARSP, Beiheft Neue Folge (1979), S. 1 ff. 174","D: Ausblick deshalb eine wirklich wirksame Rechtsordnung brauchen. Der Aufbau einer streng wissenschaftlichen rechtlichen Weltanschauung, als des fort- schrittlichsten Teiles des objektiven Rechtsgeistes, ist für die Zukunft der Menschheit gerade jetzt, wo es um alles geht, von grundlegendster Bedeutung. Die rechtliche Weltanschauung muss auf den Ergebnis- sen der kritischen Rechtsontologie und Rechtsaxiologie, wie auch auf den Resultaten der einzelnen Rechtswissenschaften, besonders der dog- matischen Rechtswissenschaft, der soziologischen Rechtswissenschaft, der psychologischen Rechtswissenschaft, der politischen Rechtswis- senschaft (der Rechtsfindungswissenschaft) und selbstverständlich auf den Ergebnissen der Lösung aller rechtsphilosophischen Hauptaufga- ben aufgebaut werden. Hier eröffnet sich eine geschichtliche Aufgabe für die Rechtsphilosophen. Die Ausarbeitung einer solchen rechtlichen Weltanschauung, dieses Bahnbrechers und Wegweisers für das allge- meine Rechtsbewusstsein des Volkes der betreffenden Gemeinschaft, ist das Allerwichtigste. Es ist selbstverständlich, dass die Ausarbeitung und die nie aufhörende Vervollkommnung dieser rechtlichen Weltanschauung Angelegenheit derjenigen sein muss, die durch das lange, unermüdli- che Studium des Rechts ihrem Volk mit der Gerechtigkeit, der Freiheit des einzelnen Menschen, der Rechtssicherheit und der Zweckmäßigkeit zu dienen lernten. 2. Die Schule der Reinen Rechtslehre Kelsens und Weyrs ist die verbrei- tetste rechtswissenschaftliche Schule der Welt. Das bedeutet aber – gerade in der heutigen Situation, in der sich die Welt befindet und die durch die leider reale Möglichkeit der totalen Vernichtung der Welt bedroht ist – eine unendlich große Verantwortung vor der Zukunft, die kategoriale Pflicht, diese ungemein große Popularität auszunützen und eine wirkliche Rechtsphilosophie aufzubauen, die auf alle aktuellen Fragen dieser Epo- che eine Antwort cum ratione sufficiente zu geben imstande wäre. 175","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Offensichtlich waren sich die Begründer des jetzt schon berühmten Hans Kelsen-Institutes dieser Tatsache voll bewusst und haben ihm als Patengeschenk die Aufgabe gegeben, die Kelsensche (und – man darf hin- zufügen – auch die Weyrsche) Erbschaft weiterzuentwickeln. Es wird sich wahrscheinlich zeigen, dass die formalen Grenzen dieser Schule zu eng sind, aber auch dass im Keime dieser Schule Möglichkei- ten stecken, die uns erlauben, diese Grenzen zu überschreiten. Ich denke z. B. an die Schreiersche Lehre vom möglichen Recht oder an die neue Erkenntnis, dass man den Inhalt des objektiven Rechtsgeistes mit wis- senschaftlichen Mitteln (besonders ob jenen der Rechtssoziologie und der Rechtspsychologie) erkennen kann, oder dass die Ausarbeitung einer rechtlichen Weltanschauung eine wissenschaftliche Tätigkeit per eminen- tiam ist. Dazu muss man aber erst die Grundsteine und die Grundthesen der Rei- nen Rechtslehre herauspräparieren und klarzulegen. In dieser Hinsicht finde ich es zweckmäßig, besonders den zweiten Heimatort dieser Schule gründlich zu berücksichtigen. Man darf nicht vergessen, dass Weyr schon drei Jahre vor Kelsen die Grundgedanken der Normativen Theorie ent- wickelte. Die Brünner Normative Rechtsschule war tief philosophisch fundiert. Ich möchte noch einmal besonders auf die Arbeiten von Weyr, Kallab, Sedláček, Loevenstein aufmerksam machen. Auch die weitere Ent- wicklung dieser Schule unter dem Einfluss der kritischen Ontologie sollte nicht außer Acht gelassen werden, ebenso wie die Theorie der Gedanken- ordnung des bekannten tschechischen Logikers und Nationalökonomen Karel Engliš. 3. Wahrscheinlich werden die Untersuchungen auch zu dem Ergebnis führen, dass es angebracht, ja notwendig ist, an eine gründliche Reform des ganzen rechtswissenschaftlichen Studiums heranzugehen. 176","Literaturverzeichnis Aster: Die Philosophie der Gegenwart (1935). Baratta: Natur der Sache und Naturrecht. In: Kaufmann (Hg.): Die ontologische Begründung des Rechts (1965). Bauch: Das Rechtsproblem in der Kantschen Philosophie, Zeitschrift für Rechtsphilosophie, Jg. III, 1920. Bauch: Immanuel Kant (1917). Bergbohm: Jurisprudenz und Rechtsphilosophie (1892). Bierling: Juristische Prinzipienlehre I (1894). Bierling: Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe (1887). Binder: Philosophie des Rechts (1925). Boháč: Prof. Dr. Frant. 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In: Verdross (Hg.): Gesellschaft, Staat und Recht. Kelsens Festschrift (1931). 187","Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) Voegelin: Die Einheit des Rechtes und das soziale Sinngebilde Staat, Revue internationale de la Théorie du Droit, Jg. V (1930). Walter: Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre. In: Merkl, Marcic, Verdross, Walter (Hg.): Festschrift für Hans Kelsen zum 90. Geburtstag (1971). Walter: Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie (1970). Walter: Hans Kelsens Reine Rechtslehre. In: Hans Kelsen zum Gedenken (1974). Walter: Kelsens Rechtslehre im Spiegel rechtsphilosophischer Diskussion in Österreich, öZföR, Jg. XVIII (1968). Weyr: Bemerkungen zu Hans Vaihingers. Theorie der juristischen Fiktionen, Rheinische Zeitschrift für Zivil- und Prozeßrecht (1917). Weyr: Der unbefugte Gewerbebetrieb, Juristische Blätter (1905). Weyr: K výkladu § 56 živnostenského řádu [Zur Auslegung des § 56 der Gewerbeordnung], Správní obzor (1909). Weyr: Nová teorie státního práva [Eine neue Theorie des Staatsrechts], Sborník věd právních a státních, Jg. XIII. (1913) Weyr: O pojem veřejnoprávní korporace. Metodologické poznámky k stejnojmennému spisu dra J. Matějky [Über den Begriff der öffentlich rechtlichen Korporation. Methodologische Bemerkungen zur gleichnamigen Schrift des Dr. J. Matějka], Časopis pro právní a státní vědu, Jg. XIII (1930). Weyr: O trestní pravomoci politických úřadů [Über die strafrechtliche Befugnis der politischen Behörden], Sborník věd právních a státních (1910). Weyr: O významu živnostenské novely z roku 1907 [Über die Bedeutung der Gewerbenovelle 1907], Právník (1907). Weyr: O živnostenských právech obchodních společností [Über die Gewerberechte der Handelsgesellschaften], Právník (1904). 188","Literaturverzeichnis Weyr: Povinnost provozování živností a uzavírání smluv [Die Pflicht Gewerbe zu betreiben und die Verträge abzuschließen], Sborník věd právních a státních (1911). Weyr: Příspěvky k teorii nucených svazků [Beiträge zur Theorie der Zwangsverbände] (1908). Weyr: Soudobý zápas o nové mezinárodní právo [Der zeitgenössische Kampf für das neue Völkerrecht] (1919). Weyr: Soustava československého práva státního [Das System des tschechoslowakischen Staatsrechtes], 2. Aufl. (1924). Weyr: Teorie práva [Theorie des Rechts] (1936). Weyr: Úvod do studia právnického [Die Einführung in das juristische Studium] (1946). Weyr: Žaloba pro odpíranou spravedlnost [Die Klage wegen der verweigerten Gerechtigkeit], Správní obzor (1909). Weyr: Zum Problem eines einheitlichen Rechtssystems, Archiv des öffentlichen Rechts (1908). Weyr: Zur Frage der Zulässigkeit der Leichenverbrennung nach österreichischen positiven Recht, Österreichische Zeitschrift für Verwaltung (1908). Windelband-Heimsoeth: Lehrbuch der Geschichte der Philosophie (1935). Winkler: Sein und Sollen, Rechtstheorie (1979). Winkler: Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen (1969). Wundt: Ethik (1903). Zippelius: Das Wesen des Rechts, 4. Aufl. (1969). Zippelius: Rechtsphilosophie (1982). 189","Wissenschaftliche Redaktion der Masaryk-Universität prof. PhDr. Jiří Hanuš, Ph.D. (Vorsitzender); doc. Ing. Pavel Bobáľ, CSc.; doc. Mgr. Pavel Caha, Ph.D.; Mgr. Michaela Hanousková; prof. PhDr. Vít Hloušek, Ph.D.; doc. RNDr. Petr Holub, Ph.D.; prof. MUDr. Lydie Izakovičová Hollá, Ph.D.; prof. PhDr. Tomáš Janík, Ph.D., M.Ed.; prof. PhDr. Tomáš Kubíček, Ph.D.; PhDr. Alena Mizerová; doc. Mgr. Markéta Munzarová, Dr. rer. nat.; doc. RNDr. Lubomír Popelínský, Ph.D.; Ing. Zuzana Sajdlová, Ph.D.; Mgr. Kateřina Sedláčková, Ph.D.; prof. RNDr. Ondřej Slabý, Ph.D.; doc. Ing. Rostislav Staněk, Ph.D.; prof. PhDr. Jiří Trávníček, M.A.; doc. JUDr. PhDr. Robert Zbíral, Ph.D. Editionsrat der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität doc. JUDr. PhDr. Robert Zbíral, Ph.D. (Vorsitzender); Mgr. Bc. Luboš Brim, Ph.D.; Mgr. David Čep, Ph.D.; JUDr. Mgr. Jakub Harašta, Ph.D.; doc. JUDr. Michal Janovec, Ph.D.; JUDr. Bc. Terezie Smejkalová, Ph.D.; doc. JUDr. Ing. Josef Šilhán, Ph.D.; JUDr. Dominik Židek, Ph.D. HANS KELSENS UND FRANZ WEYRS LEBEN UND WERK (EINIGE SKIZZEN) Vladimír Kubeš Jaromír Tauchen [Hrsg.] Fassung des Originalmanuskripts, redaktionell überarbeitet und ergänzt von doc. JUDr. Bc. Jaromír Tauchen, Ph.D., LL.M. Herausgegeben von der Masaryk-Universität Žerotínovo nám. 617/9, 601 77 Brno im Jahre 2024 Schriften der Juristischen Fakultät der Masaryk-Universität Schriftenreihe Reminiscentia iuridica, Band Nr. 5 1. elektronische Auflage, 2024 ISBN 978-80-280-0532-0 (online ; pdf) www.law.muni.cz","Vladimír Kubeš (*1908–†1988), Professor für Rechtsphilosophie, wurde Anfang der 1970er Jahre aus politischen Gründen gezwungen, die Juristische Fakultät in Brünn zum zweiten Mal zu verlassen. Da er in der Tschechoslowakei keine seiner Arbeiten mehr veröffentlichen durfte, verlagerte er seine wissenschaftlichen und pädagogischen Aktivitäten ins Ausland. An der Rechtswissenschaftlichen Fakultät in Wien unterrichtete er 10 Semester lang. Als seine Zeit als Gastprofessor im Juni 1981 endete, erhielt er vom damaligen Bundeskanzler Bruno Kreisky den Auftrag, für das Hans Kelsen-Institut ein Buch über die Beziehung zwischen Hans Kelsen und František Weyr zu schreiben. Kubeš nahm dies mit Freude an, da es ein Thema war, das ihm sehr am Herzen lag und er Weyr als seinen Lehrer sehr schätzte und liebte. Außerdem ermöglichte es ihm, weiterhin Wien zu besuchen. Nach einem Jahr Arbeit legte Kubeš das Werk mit dem Titel Hans Kelsens und Franz Weyrs Leben und Werk (Einige Skizzen) vor. In diesem vergleicht er Weyrs Lehren mit denen von Kelsen, erläutert die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Konzepten und zeigt vor allem die persönlichen Aspekte beider Denker auf. Der Vergleich fiel eindeutig zugunsten der Persönlichkeit von František Weyr aus, dem Begründer des tschechoslowakischen Zweigs der Reinen Rechtslehre (normative Theorie). Aufgrund fehlender finanzieller Mittel wurde das Buch jedoch nicht veröffentlicht und blieb somit nur als Manuskript erhalten. Jetzt hat ein breites Fachpublikum die Möglichkeit, sich mehr als 40 Jahre nach dessen Entstehung mit diesem Werk von Kubeš vertraut zu machen. ISBN 978-80-280-0532-0 muni muni press law 9 788028 005320"];